— 501 —
jenes Gegengewicht gegen den Parlamentarismus in der Verfas-
sung angebracht hat, ist interessant und könnte zu allerhand po-
litischen und psychologischen Betrachtungen Anlaß bieten.
Allerdings hat die Nationalversammlung durch zwei wichtige
Bestimmungen dafür Sorge getragen, daß eine Verleugnung des
Parlaments durch das souveräne Volk erschwert wird. Naclı
Art. 75 der Verfassung kann ein Beschluß des Reichstags, also
entweder ein Gesetzesbeschluß oder ein Beschluß, der ein Volks-
begehren ablehnt°®*, nur dann außer Kraft gesetzt werden, wenn
sich die Mehrheit aller Stimmberechtigten an der
Abstimmung beteiligt. Spricht sich das Volk in dem-:
selben Sinne aus wie der Reichstag, so ist die Stimmbeteili-
gung gleichgültig. Aber die Verfassung macht es unmöglich,
daß infolge einer schwachen Stimmbeteiligung ein nur kleiner
Teil des Volks einen Reichstagsbeschluß umwirft. Nehmen wir
an, daß die Zahl der Stimmberechtigten 36 Millionen betrage, so
müßten mehr als 18 Millionen an der Abstimmung teilnehmen,
und folglich mehr als 9 Millionen sich gegen den Reichstag er-
klären, um seinen Beschluß umzustoßen. Noch weiter geht der
Art. 76, Abs. 1 bei Verfassungsänderungen. Hat der
Reichstag eine Verfassungsänderung abgelehnt, die durch ein
Volksbegehren verlangt worden war, oder hat er die Aenderung
der Verfassung abweichend von dem Volksbegehren beschlossen,
so ist bei der sich anschließenden Volksabstimmung die Zu-
stimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten notwendig,
wenn die Verfassungsänderung als beschlossen gelten soll. Nach
unserem Zahlenbeispiele müßten sich also mehr als 18 Millionen
see Eine höchst wunderliche Auffassung bezüglich des Art. 75 vertritt
ZÖPHEL, Die Verfassung des Deutschen Reiches (Berlin 1920), S. 98. Nach
ihm soll Art. 75 einen ganz anderen Volksentscheid im Auge haben als
die im Art. 73, 74, 76 vorgesehenen, nämlich einen Volksentscheid, der
aus dem Volke selbst hervorgehe und sich gegen jeden Reichstags-
beschluß wenden könne. Davon ist natürlich gar keine Rede.