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diese Option für den Reichsrat niemals oder doch nur in solchen
Fällen vornehmen, in denen es sich nach Ansicht der Reichs-
regierung nicht,lohnt, den großen Apparat einer Volksabstimmung
in Bewegung zu setzen. Ist der Gegenstand des Streits politisch
bedeutsam, so wird unzweifelhaft die vom Reichstage abhängige
Reichsregierung den Reichspräsidenten nötigen, durch Anrufung
des Volks dem Votum des Parlamentes Nachdruck zu verschaffen,
— es müßte denn der Reichspräsident einen Kabinettswechsel vor-
nehmen. Beim Haushaltsgesetze wird er ohnehin auf jeden Fall
den Volksentscheid anordnen, da er nicht wohl durch Gleichgültig-
keit gegenüber dem Zwiespalte zwischen Reichsrat und Reichstag
das Etatsgesetz zum Scheitern bringen kann.
Eine seltsame Situation kann sich aus der Entschließungs-
freiheit des Reichspräsidenten ergeben, wenn der Einspruch des
Reichsrats gegen ein Gesetz erfolgt, das der Reichstag auf Grund
eines Volksbegehrens angenommen hat. Legt hier der Reichs-
rat Einspruch gegen den Reichstagsbeschluß ein, und unterläßt es
der Reichspräsident, den Volksentscheid anzuordnen, so ist das
Volksbegehren gescheitert; denn der Volksentscheid ist ja nur
dann obligatorisch, wenn der Reichstag das’ Volksbegehren abge-
lehnt oder mit Veränderungen zum Beschlusse erhoben hat (Art. 73,
Abs. 3). Daraus ergibt sich: der Reichstag kann ein Volks-
begehren, mit dem er nicht einverstanden ist, und von dem er
weiß, daß es auch die Gegnerschaft des Reichsrats und des Reichs-
präsidenten besitzt. am sichersten zu Falle bringen, wenn er das
Begehren — annimmt! Denn dann wird Einspruch erfolgen, der
Reichstag wird mit einfacher Mehrheit bei seinem ersten Beschlusse
stehen bleiben, der Reichspräsident wird den Volksentscheid, den
er anordnen „kann“, aber nicht anordnen muß, nicht herbeiführen ;
halte das nicht für zwlässig. Aber es mag in der Tat gelegentlich ein
„praktisches Bedürfnis“ dafür vorhanden sein, daß der Präsident seinen Ent-
schluß, nicht zu verkünden, schon vor dem Ende der Frist kundgibt (s. den
Fall unten S. 530). Nur würde das kein Verzicht sein, an den er ge-
bunden wäre.