Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 39 (39)

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das Volksbegehren wird also dem Volke nicht zur Abstimmung 
vorgelegt®. Allerdings setzt das alles ein ungewöhnliches Raffine- 
ment der dem Begehren abgeneigten Reichstagsmehrheit, eine 
starke Anspannung der Parteidisziplin bei der Abstimmung und 
ein sicheres Zusammenspiel zwischen Mehrheit, Reichsrat und 
Reichspräsident voraus. Und schließlich kann die Minderheit, 
nachdem sie sich von ihrer Ueberraschung erholt hat, nach Art. 72 
die Vorbedingung für ein Referendum schaffen und damit 
doch noch einen Volksentscheid herbeiführen. Das Referendum 
würde in diesem Falle — seltsam genug! — nicht beantragt wer- 
den, um ein vom Reichstage beschlossenes Gesetz zu beseitigen, son- 
dern um es durch einen Volksentscheid bestätigen zu lassen. 
Die Stellung des Reichspräsidenten gegenüber einem Ein- 
spruche des Reichsrats verändert sich nun aber, wenn die erneute 
Beschlußfassung des Reichstags mit besonderer Energie, d. h. mit 
einer Zweidrittelmehrheit erfolgt. In diesem Falle darf 
der Präsident das Gesetz nicht scheitern lassen. Vielmehr muß 
er es entweder in der vom Reichstage beschlossenen Fassung binnen 
dreier Monate verkünden, oder er muß innerhalb dieser Frist 
einen Volksentscheid herbeiführen. Er wird in aller Regel 
das erste tun, d. h. das Gesetz verkünden. Denn hier würde — 
anders als im vorigen Falle — der Appell an das Volk eine offene 
Parteinahme nicht für den Reichstag, sondern für den Reichsrat 
bedeuten. Dies würde den Reichstag, der mit Zweidrittelmehrheit 
seinen Willen kundgegeben hat, schwer vor den Kopf stoßen; 
»® Der „Vorwärts“ (Nr. 574 vom 9. November 1919) hat zuerst auf 
diese verblüffende Folge der Bestimmung im Art. 74, Abs, 3, Satz 2 hin- 
gewiesen. Er meint, hier sei eine „Lücke in der Verfassung“; sie müsse 
baldigst ausgefüllt werden, indem man den Reichspräsidenten verpflichte, 
in solchen Fällen den Volksentscheid anzuwenden, damit „dem Volke sein 
Recht verschafft“ werde. Aber in aller Regel wird ein Volksbegehren, 
dem der Reichstag abgeneigt ist, von ihm abgelehnt werden, und dann 
kommt es zum Volksentscheid. Der Reichstag wird schwerlich das im 
Texte geschilderte verschmitzte Verfahren einschlagen. 
  
 
	        
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