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hat die Frage ganz offen gelassen!”. So ist es gekommen, daß
die Verfassung über sie völlig schweigt. Sie hat das richterliche
Prüfungsrecht weder ausdrücklich anerkannt, noch ausdrücklich
ausgeschlossen. In diesem Zusammenhange ist daher nur zu prü-
fen, ob etwa aus dem Charakter der Gesetzesausferti-
gung irgendein Schluß nach der einen oder andern Seite ge-
zogen werden kann.
Die Ausfertigung bedeutet die Ausstellung der Gesetzes-
urkunde. Wer das Gesetz ausfertigt, der beurkundet, daß ein
Gesetz bestimmten Inhalts von dem Organe oder den Organen
beschlossen worden sei, die in der Urkunde genannt werden.
Die Beurkundung hat also zunächst keinen andern Inhalt als die
Feststellung einer Tatsache, eines Vorgangs. Nun sagt allerdings
die Reichsverfassung in Art. 70, daß der Reichspräsident die
„verfassungsmäßig zustandegekommenen“* Gesetze auszufertigen
habe. Wenn der Präsident ein Gesetz ausfertigt, so stellt er also
auch in Urkundsform fest, daß das Gesetz verfassungsmäßig, d. h.
auf dem durch die Verfassung vorgeschriebenen Wege zustande-
gekommen sei. Die Urkunde enthält mithin auch ein wertendes
Urteil. Und ferner: da der Präsident nur die verfassungsmäßig
zustandegekommenen Gesetze ausfertigen darf, so ist er nicht nur
berechtigt, sondern auch verpflichtet, vor der Beurkundung zu
prüfen, ob der verfassungsmäßige Weg der Gesetzgebung einge-
halten worden ist. Durch die nach Art. 50 erforderliche Gegen-
zeichnung der Ausfertigung übernimmt der Reichskanzler oder
der zuständige Fachminister die Verantwortung dafür, daß jene
Prüfung "stattgefunden hat. Aber es ist nirgends gesagt und ver-
107 Vgl. Prot. der 39. Sitzung vom 6. Juni 1919, S.61ff. — Es ist
ganz seltsam zu beobachten, wie sich im Verfassungsausschusse bei der
Behandlung der Frage bürokratische Angst vor der Selbständigkeit der
Gerichte und Sorge für die Unantastbarkeit parlamentarischer Beschlüsse
selbst bei Männern begegneten, die nach Parteizugehörigkeit und allge-
meiner politischer Stellung einen ganz andern Standpunkt hätten ein-
nehmen müssen.