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Staatsform, erscheint als nichts anderes denn ein dezentrali-
sierter Einheitsstaat.
Abschließend betrachtet KELSEN die Ergebnisse seines Werkes
sub specie der großen Weltanschauungsgegensätze (S. 314 ff.).
Die Theorie vom Primat des Staates ist verhältnismäßig
individualistisch-subjektivistisch — und sie ist
der wissenschaftliche Mantel des Imperialismus. Die Theorie
vom Primat der Völkerrechtsordnung entspringt
kollektivistischem, objektivistischem Denken und sie
ist die rechtstheoretische Grundlage des Kulturideals des Pazi-
fismus. Das Werk läßt erkenntnismäßig die Wahl
zwischen den beiden grundsätzlichen rechtstheoretischen Positionen
offen, willensmäßig ergreift aber unser Autor sehr entschie-
den Partei: Das hinreißend geschriebene tiefe Werk klingt in
eine schwungvolle ethische Apotheose des Primates der
Völkerrechtsordnung aus.
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KELSEN spricht in seinem großen Werke gelegentlich das
große Wort aus, „daß die Jurisprudenz in demselben Maße Wissen-
schaft wird, als sie dem Postulate der Einheit ihrer Erkenntnis
genügt, als es ihr gelingt, alles Recht als ein einheitliches System
zu begreifen“ (S. 152). Stellt man tatsächlich an die Rechts-
wissenschaft diese am philosophischen Systemgedanken orientierte,
im Sinne einer Wissenschaftslehre selbstverständliche Forderung,
dann darf man die Behauptung wagen, daß die Jurisprudenz,
deren seit Jahrzehnten und namentlich in den letzten Jahren in-
tensivierte Tendenz zur Selbstkritik und Einkehr, zum Anschluß
an die Wissenschaftsgemeinschaft nicht zu verkennen ist, erst
mit dem Werke, das jene große Einsicht ausspricht, den
Grad von Wissenschaftlichkeit erreicht habe, der den
Ehrentitel Rechtswissenschaft verdient. Jedenfalls kann
erst im Stadium eines solchen, am Systemgedanken orien-
tierten Wissenschaftsbetriebes von einer „reinen Rechts-
wissenschaft“ die Rede sein.