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entscheidungen vor November 1918, die das Prüfungsrecht des
Richters gegenüber Gesetzen ablehnen, überholt, ganz abgesehen
davon, daß wie BÜHLER richtig feststellt, unsere Richter dieses
Prüfungsrecht schon immer ausgeübt haben und noch immer aus-
üben in Beziehung auf Landesgesetze, so daß also die Gerichte
auch keine für die Verneinung der Frage einheitliche Front dar-
stellen.
Auf die schon oben angedeutete wichtige Unterscheidung von
Verfabrens-- und materiellem Mangel leitet zurück die von
W. JELLINEK (DJurZtg. 1921 S. 754) in die Erörterung ge-
worfene Idee, daß Nichtigkeit nur die seltene Folge fehlerhafter
Staatsakte se. Auch Verordnungen werden nicht wegen jeden
Verfahrensmangels für ungültig erklärt. Er meint, solange die
gewöhnliche und die Verfassungsgesetzgebung von den gleichen
Organen ausgeübt wird, leide auch das inhaltlich verfassungs-
widrige Gesetz nur an einem Verfahrensmangel: es sei ein ver-
fassungswidrig zustandegekommenes Verfassungsgesetz, ohne darum
ungültig zu sein. Hierzu wäre zu sagen, daß es sich für mich
nur um das Prüfungsrecht des Richters handelt; ob und unter
welchen Voraussetzungen der Richter eine Verfassungswidrigkeit
annimmt und welche Rechtsfolgen er daraus zieht, ist eine zweite
Frage, die nach Lage des geltenden Rechts, insbesondere des
fraglichen Verfassungsrechts zu beantworten ist. M. E. hätte
z. B. der Richter auf Grund des Art. 61 preuß. Verf. jedes nicht
verfassungsmäßig zustandegekommene Gesetz als unverbindlich zu
erklären, weil nach dem Wortlaut und Geist jener Vorschrift ein
Gesetz nur im Falle verfassungsmäßigen Zustandekommens „ver-
bindlich* ist. Ein materiell verfassungswidriges Gesetz ist nichtig.
Daß die Ausfertigung die formelle Prüfung des Richters ausschließt,
ist aber zu bestreiten, da keinerlei Begrenzungen für ein einmal
angenommenes richterliches Prüfungsrecht in unserem geltenden
Rechte zu finden sind.
Eine ganz andere Frage ist es, ob rechtspolitisch damit eine