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diese in der Sowjetverfassung festgelegten Gedanken in der Praxis nicht
festgehalten werden können. Der erste wird abgebogen in den der Diktatur
auch gegen das Proketariat, beim zweiten läßt sich aus wirtschaftlichen
Gründen die Mitwirkung der intellektuellen Klassen auf die Dauer nicht
entbehren. Im Gegensatz zu diesem proletarisch orientierten russischen
Rätesystem führt die Entwicklung in Deutschland zu einem berufständischen
wirtschaftlichen Rätesystem und seiner Verankerung in der Reichsver-
fassung. In dieser Entwicklung stehen wir heute, steht auch das Schrift-
tum, das sich in einzelnen Aufsätzen und Schriften mit dem Problem be-
schäftigt. Und so kommt der Verfasser am Ende seiner geschichtlichen
Betrachtung zu dem Resultat, daß das Problem der berufständischen Ver-
tretung in Deutschland um die Mitte des Jahres 1920 in Theorie und Praxis
noch ungelöst war und man kann hinzufügen, noch heute ungelöst ist.
„Die organisierte Arbeiterschaft verlangt nach einer unmittelbaren Be-
teiligung am Staatsleben, die führenden Kräfte in Industrie und Landwirt-
schaft fordern Verdrängung der Parteipolitik durch sachliche Politik. Die
für den Wiederaufbau wichtigsten Volkskräfte stehen damit im Gegensatz
zur bestehenden Staatsform, zur parlamentarischen Parteiregierung“ (S. 133).
So stehen wir tatsächlich wieder in mittelalterlichen Zuständen, deren die
formale Demokratie nicht Meister werden kann. Denn sie rechnet nur mit
dem einzelnen, nicht mit den machtvollen Gruppen, die die Einheit der
Staatsgewalt bedrohen, wenn man ihnen nicht Auswirkung ihrer Kräfte
innerhalb des Staatsorganismus verschafft.
Der ganze historische Abschnitt des Buches ist außerordentlich fesselnd
und klar geschrieben. Nur hätte bei der Betrachtung der heutigen Ideen
meines Erachtens auch die Steinersche Dreigliederung des sozialen Organis-
mus zum mindesten einer Erwähnung und kurzen Kritik bedurft. Wohl
erwähnt der Verf. die Dreigliederung einmal bei der Hervorhebung der
Schrift von WELTSCH, „Organische Demokratie*, 1918, der aus den ver-
schiedenen Gruppen ein Wirtschaftsparlament, ein Kulturparlament und
ein Parlament für Staatsnotwendigkeiten bilden will. Und der Verf. be-
zweifelt demgegenüber mit Recht, ob sich darauf eine einheitliche Staats-
gewalt aufbauen läßt (S. 159). Und an einer andern Stelle (S. 177) meint
er, daß „die Möglichkeit, die Kulturaufgaben des Staates von den wirt-
schaftlichen und politischen zu trennen, wohl nur in der Phantasie exi-
stiert.“ Man wird ihm auch darin beistimmen können. Nur wäre m. BE.
statt dieser gelegentlichen Bemerkungen eine Auseinandersetzung mit den
Steinerschen Ideen, soweit sie in den Rahmen des berufständischen Problems
fallen, unabweisbar gewesen ?.
Die systematische Untersuchung des Problems im zweiten Teil der
® Vgl. darüber meine Bemerkungen in dem oben erwähnten Aufsatz
im „Roten Tag“.