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rungen gefallen sind, weichen voneinander ab, das ist das eine.
Zum andern hält man die verfassungsrechtliche und die politische
Betrachtung der staatlichen Dinge nicht genügend auseinander "?.
Die politische Betrachtung ist gewiß nicht minder wichtig als
die juristische, wer möchte die Dynamik neben der Statik, die
Physiologie neben der Anatomie missen. Aber beide Betrach-
tungsweisen dürfen nicht durcheinandergemengt werden. Und die
politische Beurteilung darf nicht so in den Vordergrund gerückt
werden, daß das Verständnis für den rechtlichen Aufbay, für die
juristische Struktur des staatlichen Organismus darunter leidet.
Die Zuverlässigkeit der politischen Werturteile wird dadurch er-
heblich gefährdet. Würde dies in gebührender Weise beachtet,
so wären so unrichtige, zum mindesten irreführende Aeußerungen
wie: die Regierung sei ein bloßes Vollzugsorgan des Landtags,
sie sei ihm unterstellt, unmöglich. Solche Aeußerungen sind um
so bedenklicher, wenn sie von dem Ministerpräsidenten ausgehen,
der die Verpflichtung hat, die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten
der Regierung dem Landtage gegenüber zu.wahren. Daß es sich
nicht bloß um eine gelegentliche Entgleisung handelt, beweist
der spätere Ausspruch des Ministerpräsidenten, daß der Jandtag
der Vorgesetzte der Regierung sei. Zur Entlastung gereicht ihm
freilich, daß auch andere, unter ihnen sogar Staatsrechtslehrer,
sich in ähnlichem Sinne geäußert haben. Trotz alledem ist und
bleibt die Annahme einer verfassungsrechtlichen Unterordnung
der Regierung unter den Landtag ein schwerer Irrtum, gegen den
mit aller Entschiedenheit Einsprache erhoben werden muß, damit
er nicht festwurzelt und zu einer Staatspraxis führt, die in
schroffem Widerspruche mit der Rechtsordnung steht und auch
politisch zu schweren Bedenken Anlaß gibt.
Ein dritter Uebelstand, der die Verständigung erschwert, ist,
um mit HAENEL!* zu reden, „die Praxis und Wissenschaft be-
12 LUKAS, Die organischen Grundgedanken der neuen Reichsverfassung
S. 24, 8. 34 ff.
ı# Deutsches Staatsrecht Bd. I S. 119.