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das arbeitende Volk die Gesetze, vollstreckt sie und richtet über
jene, die diesen Gesetzen zuwiderhandeln.* Lenin und Kun ver-
werfen also die Dreiteilung der Staatsfunktionen auf das ent-
schiedenste und betrachten die Uebertragung der drei Staats-
gewalten an ein und dasselbe Organ als prinzipielle Frage. Die
Anwendung des Begriffes Verwaltung im alten wissenschaftlichen
Sinne des Wortes ist aber auch durch den Umstand unmöglich,
daß im kommunistischen Staate auch die Produktion und die
Verteilung der Güter Aufgabe des Staates bildet oder wie Lenin
sich ausdrückt: „jeder Bürger verwandelt sich zu einem besoldeten
Angestellten des Staates, die geschäftlichen Funktionen werden
aus politischen gewöhnliche Verwaltungsfunktionen.“ Das Tätig-
keitsfeld der bisherigen Verwaltung hat sich somit also beträcht-
lich erweitert.
Glücklicherweise war jedoch die Theorie der Praxis auch hier
weit voran. Was Lenin und Kun über die Sowjetmacht gesagt,
war nur ein Ziel, das sie sich gesteckt. Als sie die Macht an
sich gerissen, sahen sie sich vor die Aufgabe gestellt, trotz der
großen Lücken ihres Systems, die ganze Staatsmaschinerie zu
übernehmen und sie — um leben und atmen zu können — ohne
Stockung in Betrieb zu halten. Sie konnten daher nach Ueber-
nahme der Staatsgewalt nichts anderes tun, als die Umgestaltung
des Staatsapparates anzustreben, die alte Organisation und den
alten Geist auszumerzen und allmählich durch einen neuen zu
ersetzen. Mit einem Worte: die alte Verwaltung konnte nicht
‚mit einem Schlage zertrümmert werden, sie lebte — wenn auch
geknebelt und ohnmächtig — weiter fort, so daß ihre Umrisse
noch beim Sturz der Proletarierdiktatur deutlich zu erkennen
waren. Daher ist es möglich, von Verwaltung im alten Sinne
sprechen zu können, trotzdem die kommunistische Staatsorgani-
sation die Dreiteilung der Staatsgewalten nicht kennt. Wir haben
also eine erschöpfendere Antwort auf die Frage zu suchen: auf
welche Weise und inwieferne hat die Proletarierdiktatur in Ungarn
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