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In der Sitzung des Verfassungsausschusses vom 20. März 1919 führte
der Vertreter des Reichsjustizministeriums — Geh. Regierungsrat Zweigert —
aus: „Die Frage, wer der streitende Teil im Sinne des Art. 17 ist, kann
nur insoweit zu Zweifeln Anlaß geben, als es sich um Verfassungsstreitig-
keiten innerhalb eines Gliedstaates handelt ..... Für den Art. 76
Abs. 2 der bisherigen Reichsverfassung, der die Erledigung von Verfassungs-
streitigkeiten innerhalb eines Bundesstaates auf Anrufen eines Teiles dem
Bundesrat zuwies, wurde in der Wissenschaft und Staatspraxis überwiegend
angenommen, daß unter Verfassungsstreitigkeiten nur Streitigkeiten
zwischen derRegierungundderVolksvertretung eines
Bundesstaats zu verstehen sind. An dieser Rechtslage wird durch
den Art. 17, der in dem entscheidenden Punkt mit dem bisherigen Recht
übereinstimmt, nichts geändert“ (Aktenstück Nr. 391 S. 114).
Denselben Standpunkt vertritt die Denkschrift, welche das Reichs-
ministerium des Innern am 2. April 1919 dem Verfassungsausschuß als
Erläuterung zu Art. 17 des Entwurfs vorgelegt hat.
Dagegen hat der bayerische Bevollmächtigte Dr. v. Graßmann am
20. März 1919 im Verfassungsausschuß erklärt:
„Die Ansicht des Herrn Geheimrats Zweigert, daß unter Verfassungs-
streitigkeiten nur Streitigkeiten zwischen Regierung und Parlament zu
verstehen sind, ist zu eng. Verfassungsstreitigkeiten sind
auchzwischen Einzelpersonen und dem Staat sowie
zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staat
denkbar“ (Aktenstück Nr. 391 S. 115).
Der Abgeordnete Dr. Kahl hat als Berichterstatter in der Sitzung des
Verfassungsausschusses vom 3. Juni 1919 ebenfalls geäußert:
„Verfassungsstreitigkeiten sind Streitigkeiten
über die Auslegung oder dieAnwendung der Landes-
verfassung. Entscheidend ist nicht, daß der Streit
darüber gerade zwischen derRegierung und der Volks-
vertretung stattfindet, wenn das auch der häufigste Fall ist,
sondern daß der Gegenstand des Streites die Ver-
fassung betrifft, wobei es wiederum gleichgültig ist, ob es sich
um einen in der Verfassungsurkunde enthaltenen Satz handelt oder um
einen in einem sonstigen Verfassungsgesetz stehenden Satz® (Aktenstück
Nr. 391 S. 409).
Dieselbe Meinungsverschiedenheit hat schon unter der Herrschaft der
alten Raichsverfassung hinsichtlich der Auslegung des Art. 76 Abs. 2 be-
standen, die dem Art. 19 der neuen Reichsverfassung als Vorbild gedient
hat. Die Frage ist im Reichstage bei Besprechung von Petitionen, welche
Mecklenburgische Verfassungsangelegenheiten betrafen, wiederholt erörtert
worden. Die Mecklenburgische Regierung, die Reichsregierung und der
Bundesrat stellten sich regelmäßig auf denselben Standpunkt, den gegen-