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wärtig die Braunschweigische Landesregierung vertritt. Sie behaupteten:
Verfassungsstreitigkeiten sind nur Streitigkeiten zwischen Regierung und
Landesvertretung; eine solche Streitigkeit besteht in Mecklenburg nicht;
folglich ist Art. 76 Abs. 2 nicht anwendbar, vgl. z. B. Reichstagsverh. vom
12. Mai 1869 Sten. Ber. S. 941 (mecklenbg. Staatsminister v. Bülow), vom
24. Januar 1905 Sten. Ber. S. 4001 (Staatssekretär Graf Posadowsky).
Dagegen herrschte im Reichstage eine andere Auffassung vor, die in
einem Bericht der Petitionskommission vom 1. Mai 1869 besonders ein-
gehend begründet worden ist. In diesem Bericht (Reichstagsverh. Bd. 9
S. 515) ist gesagt:
„Eine ältere Ansicht gestand die Berechtigung (sc. zur Erhebung des
Verfassungsstreits) nur den Ständen oder repräsentativen
Körperschaften zu Allein man hat sich überzeugt, daß diese
Ansicht ad absurdum führt. Denn mit ihr können die Regierungen einen
ihnen unbequemen Verfassungsstreit offenbar dadurch vereiteln,
daß sie die berechtigte Körperschaft auflösen und
damit das zur Streiterhebung allein berechtigte Subjekt vernichten.
Dasselbe gilt von einer anderen Ansicht, nach welcher jeder
einzelne Staatsbürger als solcher einen Verfassungsstreit beliebig
erregen kann. Denn das würde jedem Sonderling die Befugnis verleihen,
Regierung und Volk in Aufregung um die höchsten Interessen des Staats
zu ersetzen und zu erhalten.
Dagegen verdient eine Mittelansicht Anerkennung,
welche zwar die Berechtigung der Staatsangehörigen zu
Klagen über Verfassungsverletzungen in thesi statuiert,
aber um Frivolitäten zu verhüten, im einzelnen Falle (in hypothesi)
jenach dessen Beschaffenheit dem richterlichen Er-
messen unterstellt wissen will.
Vgl. auch Bericht der Petitionakommission vom 31. Mai 1872 (Reichstagsverh.
Bd. 26 Drucks. Nr. 120 S. 537 ff.), ferner die Sitzungsberichte vom 12. Mai
1869 (Reichstagsverh, Bd. 8 S. 941 fl.) und 12. Juni 1872 (Reichstagsverh.
Bd. 25 S. 943 ff.).
In der staatsrechtlichen Literatur haben schon seit den
Tagen des Deutschen Bundes angesehene Schriftsteller die Meinung ver-
treten, daß in besonderen Ausnahmefällen dieBerechtigung
einzelner Personen und Körperschaften zur Erhebung von
Verfassungsbeschwerden bei dem Bundestag bzw. Bundesrat anerkannt
werden müsse, vgl. ZACHARIÄ, Deutsches Staats- und Bundesrecht 3. Aufl.
(1867) Bd. 2 S. 777, HÄneı, Deutsches Staatsrecht (1892) S. 568, MEYER-
AnscHÜTz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts 7. Aufl. (1919) S. 943
Anm. 12, FLEISCHMANN, Die Zuständigkeit des Bundesrats für Erledigung
von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten (1904) S. 37. Allerdings war die
Frage auch in der Literatur sehr bestritten. Der Standpunkt der Regie-