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Denn gerade jene beiden Hindernisse, welche der Ausbildung des Ver-
fahrens ursprünglich entgegentraten, nämlich die fehlende Stütze des
Gesetzes und der Widerstand der Verwaltungsorgane, wurden eine Quelle
der inneren Kraft. Der österreichische Vorgang überholte sogar die eng-
lische Methode der Rechtsbildung in einem wichtigen Punkte. Wenn in
England Rechtssätze von der Praxis und für die Praxis gebildet werden,
so bleibt die logische Durcharbeitung zumeist auf halbem Wege stehen;
denn der logische Antrieb geht nicht sehr weit über das Bedürfnis des
gerade vorliegenden Einzelfalles hinaus und er steigt selten in den luft-
verdünnten Raum der reinen Abstraktion hinauf. Hingegen war gerade
das Österreichische Verwaltungsgericht, in welchem sehr viele Theoretiker
und Professoren Aufnahme fanden, der Kampfplatz, auf welchem diese
Wächter der Wissenschaft gegen die theoretisch nicht gefestigte Praxis
ankämpften. Gerichtspraxis kämpfte hier gegen Behördenpraxis und konnte
sich nur auf eigene Logik, hingegen fast gar nicht auf die Autorität von
Gesetzesparagraphen stützen.
Man könnte, einen Vergleich aus dem Naturleben heranziehend, von
einer Inzucht im englischen System sprechen, im Vergleich zum österreichi-
schen, wo stets neues Blut einströmte.
III. Da zerfiel der Staat und dieser künstliche Bau des Administrativver-
fahrens schien wie ein Haus ohne Dach allen Witterungseinflüssen ausgesetzt.
In diesem Augenblicke geschah folgendes: Ein Senatspräsident jenes Ver-
waltungsgerichtshofes, Universitätsprofessor FRIEDRICH TEZNER machte sich
die Mühe, die bisher gewonnenen Rechtssätze so zu ordnen, daß — wieer
mit berechtigtem Stolze in der Einleitung bemerkt — deren Wiedergabe
„den Eindruck eines von einem Theoretiker herrührenden Systemes macht“.
Es ist ein Buch von 788 Seiten geworden, nebst einer Einleitung von 164 S.,
die den Aufbau des großen Werkes aus dem Gesichtspunkte der „einheit-
lichen Rechtsnorm“ verteidigt und sich dabei mit KELsEns Staatstheorie
auseinandersetzt.
Buchhändlerisch wäre ein solches Werk nicht herstellbar gewesen; es
ist daher ein wirkliches Verdienst unserer führenden Geister, des Präsidenten
HAıINISCH, des früheren Kanzlers REnnErR, BAUER u. a., daß dieses Buch
von der Staatsdruckerei hergestellt und also auf öffentliche Kosten verlegt
wurde. So ist der Buchdeckel das schützende Dach geworden, welches die
kostbare Errungenschaft birgt; ces ist ein geretteter Kulturschatz, den das
alte Oesterreich seinen Nachfolgestaaten als wertvolles Erbe neidlos über-
läßt. — Denn, so seltsam es klingt, so gehässig gerade die slawischen Nach-
folgestaaten über Altösterreich urteilen, so wenig haben diese Staaten, als
sie die Kette zerrissen, die sie an diesen Staat band, sich von dessen Ver-
waltungsrechte befreit — sie benützen es, so weit sie können!
Aber auch über diese staatlichen Grenzen hinaus dürfte dieses so schwer
errungene Österreichische Administrativverfahren nachhaltige Wirkungen