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seinem Dornröschenschlaf geweckt.“ Zum erstenmal trat in der evan-
gelischen Kirche klar hervor, „daß Staatsrecht und Kirchenrecht be-
grifflich verschiedene Dinge sind“ ®. In dieser Beziehung hat denn auch
Harnisch’ in seiner Eingabe zweifellos recht, wenn er der Ansicht
ist, daß „die Staatsumwälzungen im Reiche und den Einzelstaaten mit
dem Zusammenbruch der landesherrlichen Gewalt auch den Zusam-
menbruch der kirchlichen Verfassungen gebracht hätten, insofern
eine Verbindung mit der Staatsgewalt bestand“ Wenn
er aber daraus den weiteren Schluß zieht, daß nun „alle Glaubens- und
Vereinigungsfreiheit an die einzelnen Kirchengemeinden und, wo inner-
halb dieser eine Verschiedenheit des Bekenntnisgrundes und des Ver-
einigungswillens obwaltete, sogar an die einzelnen Gemeindemitglieder
zurückfiel“, so kann ich ihm darin nicht-folgen. Der Wegfall des landes-
kirchlichen Kirchenregiments bedeutete wohl den Rückfall der Leitung
der Kirche anrein kirchliche Organe, nicht aber wollte die Reichs-
verfassung dadurch die Atomisierung der bisherigen Kirchen herbei-
fübren. Daß sie das nicht gewollt hat, erhellt gerade daraus, daß sie
den bisherigen Kirchen die Rechte der öffentlich-rechtlichen Korporation
mit den daraus erfließenden Pflichten und Rechten ausdrücklich beläßt.
Das und nieht mehr will wohl auch der Neujahrsaufruf 1920/1921 der
Thüringer Kirche besagen, wenn er ausspricht: „Nach dem Thronver-
zicht der Landesherren ist die Kirchengewalt auf das Kirchenvolk über-
gegangen.“ Es ist für die Landeskirche der Ersatz von „Luthers Epis-
kopalverfassung durch die Presbyterialverfassung“®, die darin ihren
Ausdruck fand, die Eigenregierung der Kirche auf Grund eigenen
kirchlichen Rechts.
Insoweit besteht auch gar kein Gegensatz zwischen den Parteien.
Auch die Kirchengemeinden von Dorfilm erklären in ihrer Eingabe
ausdrücklich, daß sie es als Aufgabe der Synodalen betrachteten, ihre
lutherische Kirche nach diesen Grundsätzen aufzubauen. Der Kon-
flikt beginnt erst in dem Augenblick, als die Vertretung der Rudol-
städter Kirche ihren Anschluß und damit ihr Aufgehen in der neuen
Thüringer Kirche beschließt.
"8% BREDT a. a. O. S. 39.
?” Staatsminister a. D. Harnisch, Eingabe namens des lutherischen
Schutzbunds pp. an das thür. Ministerium des Innern vom 11. April 1922.
® Zitiert bei REICHARDT, Der Neubau der Thüringer evangelischen
Kirche, Jena 1922, S. 29.
® Ausspruch von THUMMEL bei REICHARDT a. a. O. S. 19.
Archiv des öffentlichen Rechts. N. F. 6. Heft 2. 16