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Die zuletzt besprochenen Entscheidungen leiten bereits zu einem
anderen, im Steuerrecht besonders wichtigen Problem über: wie wirkt
das Inkrafttreten neuer Normen auf den bisherigen Rechtszustand
ein. Es ist nicht verwunderlich, daß grade dieser Fragenkomplex dem
obersten Finanzgericht Gelegenheit zu zahlreichen und interessanten
Entscheidungen gegeben hat; kein anderes Rechtsgebiet befindet sich
hinsichtlich der „Geltung“ seiner Rechtssätze durch die häufigen
Gesetzesänderungen in einem so labilen Gleichgewicht, wie das Steuer-
recht.
Mehrere materielle Entscheidungen des RFH. sind auf die formelle
Frage abgestellt, zu welchem Zeitpunkt eine neue Norm in Kraft
getreten ist. Soweit hierfür der Zeitpunkt der „Verkündung“
maßgebend ist, entscheidet der RFH. ohne Rechtsirrtum, daß als Tag
der Verkündung derjenige Tag anzusehen ist „an dem das das Gesetz
enthaltende Stück des Reichsgesetzblattes in der Reichshauptstadt
ausgegeben worden ist“; ohne Bedeutung ist hierbei, wie sich aus
Art. 70, 71 RV. ergibt, der Tag der Ausfertigung, gleichgültig ob es
sich um Gesetze handelt, die über ihr Inkrafttreten keine ausdrück-
liche Bestimmung treffen, für die also Art. 71 RV. unmittelbar gilt,
oder um solche, die den Beginn ihrer Geltung nach dem Tage ihrer
Verkündung bestimmen. Vorstehende Sätze werden zunächst nur
für Reichsgesetze entwickelt (Bd. 3 S. 288); sie sind aber auch
für das Inkrafttreten von Verordnungen maßgebend, soweit diese
im Reichsgesetzblatt verkündet werden (Bd. 10 S. 15)°: die früher
oder später außerdem noch erfolgende Bekanntgabe solcher Verord-
nungen im Zentralblatt für das deutsche Reich oder in einem anderen
amtlichen Blatte ist für den Zeitpunkt der Verkündung ohne Bedeu-
tung. Bd. 108.70 ist die Frage gestreift, ob deutsche Rechtsnormen,
die in den besetzten Gebieten nach der sog. Gesetzgebungsverordnung
der Rheinlandkommission vor der Vollzugsetzung vorgelegt werden
müssen, erst nach Ablauf der Einspruchfrist oder (wenn Einspruch
” Der Leitsatz des im Text genannten Urteils ist vollständig sinnent-
stellend wiedergegeben: Nicht als Tag des „Inkrafttretens“ ist in allen
Fällen der Tag der Ausgabe des Reichsgesetzblatts (fehlt „in der Reichs-
hauptstadt®!) anzusehen, sondern als Tag der „Verkündung‘. Bei der
überhandnehmenden Gewohnheit, Entscheidungen nur nach ihren Leitsätzen
zu beurteilen, müßte grade auf deren einwandfreie Redaktion besonderer
Wert gelegt werden. Die Berichtigung am Schluß des Bandes vergißt die
fehlenden Worte „in der Reichshauptstadt“ hinzuzufügen.