Object: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
92 Internationales Privatrecht. III. Buch. 
  
Eine Reihe positiver, von Kaiser Wilhelm ll. gegebener Anregungen und Förde- 
rungen der internationalen Beziehungen (Austausch-Professoren, Oxford-Stipendien 
usw.), besonders aber das vorbildlich wirkende Interesse und weitschauende persönliche 
Verständnis des Kaisers für die internationale Kulturgemeinschaft der VBölker und für 
die Interessensolidarität der Staaten haben in Oeutschland jenen Sinn für die 
internationalen Beziehungen, welcher in den kaufmännischen und technischen Be- 
rufen längst vorhanden war, auch im deutschen Zuristenstande allmählich erweckt. Kaum 
irgendwo ist das so schwierig gewesen und so langsam gegangen, wie bei den Furisten. 
Aber auch hier hat der Funke endlich gezündet. 
II. Weit stärker und wichtiger als die soeben angedeutete durchschnittliche Zunahme 
des Znteresses und des Verständnisses der juristischen Praxis gegenüber den Aufgaben 
des internationalen Privatrechtes ist nun aber der innere und positive Entwicklungs- 
fortschritt, welchen in den letzten 25 Jahren die Wissenschaft des internatio- 
nalen Privatrechts in Deutschland gemacht hat. 
Internationalisten und Positivisten. Der in den 90er Jahren entbrannte 
Streit der Znternationalisten (Bar, 
Neumann u. a.) und der Positioisten (Aiemeyer, Kahn u. a.) im internationalen 
Privatrecht hatte den Sinn, daß die letzteren (sich mehr an Wächter anlehnend) 
als Ausgangspunkt für die Lösung der Fragen des internationalen Privatrechts 
die einzelne (innerstaatliche) Rechtsordnung nahmen, während die ersteren (mehr 
Savignyp folgend) von vornherein von einem völkerrechtlichen (überstaatlichen) Stand- 
punkt ausgingen. Der Streit war theoretischer und prinzipieller Natur und hätte 
leicht zu tiefgreifenden praktischen Spaltungen führen können. Dies geschah indessen 
nicht. Bielmehr bemerkten Positivisten und Internationalisten bald genug, daß sie 
vermittelst verschiedener Formulierung praktisch zu dem gleichen Ergebnis kamen. 
Beide Gruppen gelangten zu dem Ergebnis, daß im heutigen Rechtsleben kein Staat 
die internationale Kulturgemeinschaft ignorieren und deswegen auch kein Staat die 
Zdee internationaler Rechtsgemeinschaft ablehnen kann. Dabei betonen die Inter- 
nationalisten mehr den unausweichlichen inneren Druck der internationalistischen For- 
derungen. So sagt Bar: „Das internationale Privatrecht ist in seiner Existenz nicht ab- 
hängig davon, daß die Grundlagen durch Staatsverträge oder Gesetze festgesetzt seien. 
Es besteht, weil es notwendig ist, durch den Zwang der Verhältnisse, durch die Natur 
der Sache.“ Die Positioisten dagegen betonen, daß die Geltung jener Prinzipien auf 
der aufgeklärten Erkenntnis und dem autonomen MWillen der einzelnen Staaten be- 
ruht. Hinsichtlich des Inhalts jener Prinzipien aber brauchten deswegen Positivisten 
und Internationalisten durchaus nicht verschiedener Meinung zu sein. Tatsächlich hat 
sich freilich herausgestellt, daß die vorhandene Verschiedenheit der theoretischen Grund- 
auffassung doch auch die Stellungnahme in einzelnen positiven Fragen des inter- 
nationalen Privatrechts beeinflußt. So z. B. stehen in der Frage der Rückverweisung 
(Art. 27 EG. z. BG.) die Positivisten und die Internationalisten in getrennten Lagern. 
Eine Vereinigung der Auffassungen (auf unverkennbar positioischer Basis) in 
  
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