Völkerrecht. 499
muß. Der einzelne Rechtssatz kann für einige Staaten durch Gewohnheit, für andere durch
Vereinbarung Geltung erlangt haben.
III. Die Erkenntnis des VBölkerrechts. Das Vertragsrecht ist in Urkunden
verzeichnet. Vereinbarungen werden regelmäßig amtlich bekanntgegeben. Sie sind in den
Sammlungen der Staatsverträge zum Abdruck gebracht; vgl. das Verzeichnis S. 483. Diese
Sammlungen enthalten zugleich die rechtsgeschäftlichen Verträge, in neuerer Zeit oft auch die
diplomatischen Depeschen und Protokolle. Die Kenntnis des Gewohnheitsrechts wird aus den
geschichtlichen Präzedenzfällen gewonnen sowie aus der ausdrücklichen Anerkennung oder Nicht-
anerkennung bestimmter Sätze in den Staatsverhandlungen und rechtsgeschäftlichen Verträgen.
Eine geschichtliche Betrachtung der letzteren liefert viele wertvolle Aufschlüsse über das Ge-
wohnheitsrecht. Die diplomatischen Depeschen und Protokolle enthalten das Material zum
Verständnis der Verträge. Die Gesetze der einzelnen Staaten und die Entscheidungen ihrer
Gerichte dürfen nur mit Vorsicht zur Erkenntnis des Gewohnheitsrechts herangezogen werden.
Mitunter wird der nämliche Gegenstand von verschiedenen Staaten im Wege der Gesetzgebung
oder Verordnung gleichmäßig geregelt: Prisenreglements, Seestraßenordnungen. Doch ist genau
zu unterscheiden, ob lediglich das Gute übernommen oder in Anerkennung einer völkerrecht-
lichen Verpflichtung gehandelt wurde. Das Gesetz als solches ist nie Völkerrechtsquelle, denn
es ist die Anordnung eines Rechtssatzes für den eigenen Bereich des einzelnen Staats, ein Befehl
an seine Untergebenen. Er wird dadurch anderen Staaten zur Befolgung seines eigenen Ge-
setzes nicht verpflichtet; noch weniger kann er ihnen Verpflichtungen auferlegen. Da ein Staat
allein Völkerrecht nicht zu schaffen vermag, so sind auch die Entscheidungen seiner Gerichte dazu
nicht imstande. Nur indirekt können sie auf die Bildung einer völkerrechtlichen Gewohnheit
Einfluß üben.
Eine Gesamtkodifikation des Völkerrechts im Wege der Vereinbarung ist möglich, aber
der zu überwindenden Schwierigkeiten halber für absehbare Zeit nicht zu erwarten. Die bis-
herige Entwicklung weist auf den Weg der Partialkodifikation hin. Ihn werden voraussichtlich
auch die amerikanischen Staaten beschreiten, welche im Sommer 1912 mit umfassenden Kodi-
fikationsarbeiten beginnen sollten. Vgl. Alvarez: La codification du droit international.
Paris 1912. "
Erstes Buch: Das materielle Völkerrechr.
1I. Allgemeiner Teil.
Erstes Kapitel: Die Subjekte.
A. Der Staat als völkerrechtliche Person.
§ 6. 1. Begriff und Eigenschaften des Staats.
Literatur. Die Lehrbücher über allgemeine Staatslehre und Staatsrecht und die da-
selbst angefthrten Werke über den Staat. Heilborn: Das völkerrechtliche Protektorat, Berlin
91, S. 44 ff.
I. Begriff. Der Staat ist älter als das Völkerrecht. Es setzt den Staatsbegriff und
mit ihm den Unterschied zwischen Staat und Kommunalverband als gegeben voraus. Der
Staat ist die mit ursprünglicher oder eigener Herrschermacht ausgerüstete Gebietskörperschaft
Gellinek). Wesentlich sind ihm: 1. ein bestimmtes Volk, 2. ein von diesem dauernd bewohntes
Gebiet, 3. eine äußere Organisation des gemeinsamen Lebens; sie dient zur Erfüllung des
Gemeinzwecks; sie ermöglicht die Bildung eines Gemeinwillens.
Das Recht betrachtet den Staat als Verbandseinheit und als Person, d. h. als ein selb-
ständiges, von der Summe seiner Untertanen verschiedenes, rechts- und handlungsfähiges Wesen.
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