Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

6§ 18. Zuständigkeit des Bundesrathes. 111 
welcher alsdann obliegt, die Vermittelung durch einen Ausschuß zu versuchen, falls 
aber dieser Versuch fehlschlagen sollte und demnächst eine richterliche Entscheidung 
nothwendig wird, solche durch eine wohlgeordnete Austrägalinstanz zu bewirken, 
deren Ausspruch die streitenden Theile sich sofort zu unterwerfen haben.“ Streitig- 
keiten der Bundesmitglieder unter einander wurden also am letzten Ende im Wege 
des Austrägalverfahrens erledigt; s. oben S. 10 und Näheres bei Zachariä, 
Deutsches Staats= und Bundesrecht, 3. Aufl., Bd. II, § 269 ff., S. 739 ff. 
Artikel 76, Abs. 1 der Reichsverfassung bestimmt: 
„Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern dieselben 
nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichts- 
behörden zu entscheiden find, werden auf Anrufen des einen Theils von 
dem Bundesrathe erledigt.“ 
Der Sinn dieser Vorschrift ist wie derjenige der bezüglichen Vorschriften der 
deutschen Bundesacte und der Wiener Schlußacte, Selbsthülfe und Gewalt- 
thätigkeiten zwischen den Bundesstaaten auszuschließen. Die Vor- 
schrift in Artikel 76, Abfs. 1 bezieht sich nicht auf Streitigkeiten innerhalb eines 
Bundesstaates, also z. B. nicht auf die Frage, wer nach den dort gültigen Gesetzen 
oder Staatsverträgen zur Thronfolge berechtigt (Arndt, Komm., S. 8386, 
Thudichum, Verfasfungsrecht des Norddeutschen Bundes, S. 110), oder wie in 
einem Bundesstaate eine seiner Verfassungsvorschriften auszulegen ist. Sie bezieht 
sich lediglich auf Streitigkeiten zwischen mehreren Bundesstaaten, nicht etwa 
auf einen Streit zwischen der Person eines Bundesfürsten in privatrechtlicher Hin- 
sicht und einem anderen Bundesstaate. Sie trifft auch nicht den Fall (Wiener 
Schlußacte, Artikel 30), daß Forderungen von Privatpersonen deshalb nicht be- 
friedigt werden können, weil die Verpflichtung, denselben Genüge zu leisten, zwischen 
mehreren Bundesmitgliedern zweifelhaft oder bestritten ist (Arndt, Komm., 
S. 286, Riedel, Die Verfassungsurkunde, S. 162). Wie der ehemalige Bundes- 
tag, so kann auch der Bundesrath nicht ohne Antrag eines der streitenden Staaten 
sich mit der Erledigung eines Streites befassen (vgl. Seydel, Comm., S. 405). 
Wie der ehemalige Bundestag einen derartigen an ihn gebrachten Streitfall nicht 
unmittelbar entschied und vielmehr durch einen Dritten, ein oberstes Gericht, ent- 
scheiden ließ loben S. 10, Zachariä, II, § 272), ebenso soll nach der Absicht 
der Reichsverfassung der Bundesrath, wenn es ihm nicht gelingt, einen gütlichen 
Ausgleich herbeizuführen, den Streitfall durch eine dritte Stelle, eine Austrägal- 
instanz, meist ein Gericht, erledigen. Der Bundescommissar von Savigny 
äußerte sich am 9. April 1867 im verfassungberathenden norddeutschen Reichstage 
dahin (Sten. Ber. S. 665): 
„Unter dem Worte „erledigt“ ist nur im Allgemeinen angedeutet 
worden, daß der Bundesrath seinerseits bestrebt sein wird, falls es ihm 
nicht gelingt, innerhalb seines Schooßes — ich möchte sagen im Familien- 
rathe — eine solche Angelegenheit zu befriedigender Lösung zu bringen, 
diejenigen Rechtswege selbst zu bezeichnen, auf denen die Sache zum Austrag 
kommen kann. Vorzugsweise ist dabei auch der Fall einer Verweisung 
auf Austrägalinstanz vorausgesehen. Das verstehen wir unter dem Worte 
erledigt.“ 
Noch deutlicher ergeben die Erklärungen, welche der hessische und der ham- 
burgische Bevollmächtigte im Schlußprotokolle der Verfassungsberathung vom 
7. Februar 1867 abgaben (Sten. Ber. des verfassungberathenden norddeutschen 
Reichstages 1867, Actenstück Nr. 10, S. 23, v. Rönne, Reichsstaatsrecht, 1, 
§23, S. 219, Seydel, Comm., S. 405 f.), daß die unmittelbare Entscheidung 
des Streitfalls durch den Bundesrath in Artikel 76, Abs. 1 der Reichsverfassung 
nicht beabsichtigt war; ebenso Arndt, Komm., S. 287, v. Rönne, Reichsstaats- 
recht, I, § 23, T. 219, Seydel, Comm., S. 405 ff. Anderer Ansicht ist u. A. 
Laband, Staatsrecht, 1, S. 236, welcher den Artikel 76, Abs. 1 der Reichs- 
verfassung dahin auslegt, daß der Bundesrath, auch wenn er eine dritte Stelle mit 
der Fällung des Urtheils betraut, die eigentliche Instanz bilde; das Collegium, welchem 
er die Entscheidung der Sache aufträgt, habe keine eigene Competenz, sondern erstatte
	        
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