Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

114 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches. 
Dieser Artikel ist fast wörtlich übereinstimmend mit Artikel 29 der Wiener 
Schlußacte und kam auf Antrag des Abgeordneten Wiggers (Nostock) in die 
Verfassung (Sten. Ber. des verfassungberathenden norddeutschen Reichstages 1867, 
S. 675). Unter Justizverweigerung ist nicht bloß der hemmende Eingriff, etwa 
der vollziehenden Gewalt, in die Justiz, sondern auch die Verzögerung der Justiz 
zu verstehen; ebenso Seydel, Comm., S. 410; selbstverständlich nicht jede Ver- 
zögerung, sondern eine länger andauernde, die den Charakter einer Justiz- 
verweigerung annimmt, z. B. die länger andauernde Nichtbesetzung der Richter- 
ämter (s. Zachariä, Deutsches Staats= und Bundesrecht, 3. Aufl., II, S. 790). 
Die Vorschrift in Artikel 77 betrifft auch nur reine Instizsachen, d. h. solche 
Angelegenheiten, die den ordentlichen Civil= oder Strafgerichten unterstellt find. 
Die Rechtspflege der Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte fällt nicht 
hierunter (Seydel, Comm., S. 410, Zachariä, II, S. 786 f.). Was Justiz- 
sache in diesem Sinne ist, d. h. ob eine Angelegenheit den ordentlichen Gerichten 
untersteht, beantwortet sich lediglich nach dem Rechte des betreffenden Staates. 
Wenn nach diesem Rechte z. B. ein Gerichtshof zur Entscheidung der Competenz- 
conflicte die Zuständigkeit der Gerichte verneint, so kann ein Fall der Justiz- 
verweigerung im Sinne des Artikels 77 nicht angenommen werden (Zachariä, 
II, S. 788), auch nicht, wenn die Landesgerichte sich selbst für unzuständig erklärt 
haben (Zachariä, II, S. 788, Anm. 11). 
Nach Inkrafttreten der sogenannten Reichsjustizgesetze vom Jahre 1877 (s. auch 
§ 1 des Gerichtsversassungsgesetzes, Artikel 86 der Preußischen Verfassungsurkunde) 
wird der Artikel 77 nach den maßgebenden Ausführungen kaum noch praktische 
Bedeutung beanspruchen. 
IV. Neben den Befugnissen, welche die Verfassung dem Bundesrathe ein- 
räumt, übt dieser mannigfache Rechte aus, welche ihm durch die Gesetze des 
Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches eingeräumt find. Diese Rechte 
im Einzelnen aufzuzählen, ist hier nicht der Ort. Hervorzuheben ist, daß nicht 
nur zahlreiche Gesetze den Bundesrath als oberste Instanz über Streitigkeiten hin- 
stellen, sondern daß auch dem Bundesrathe nicht selten die Ermächtigung ertheilt 
ist, Namens des Reiches Anordnungen mit gesetzlicher Kraft zu erlassen, Reichsgesetze 
zu ergänzen oder nicht gesetzliche Vorschriften ganz oder theilweise außer Anwendung 
zu setzen. Als Beispiele mögen die §§ 16 und 139 a der Gewerbeordnung und § 2 
des Reichsgesetzes, betreffend die Invaliditäts= und Altersverficherung vom 22. Juni 
1889 (R.-G.-Bl. 1889, S. 97) dienen. 
V. Ueberblickt man die Gesammtheit der dem Bundesrathe zustehenden Be- 
fugnisse, so gelangt man mit dem Fürsten Bismarck zu dem Ergebnisse, daß 
der Bundesrath der Repräsentant der eigentlichen Souveränetät ist 
(Rede am 27. März 1879 bei Gelegenheit der elsaß-lothringischen Frage im 
Reichstage). Streitig ist, ob der Bundesrath nur die Vertretung und ein Organ der 
Einzelstaaten, oder ob er zugleich Organ der Einzelstaaten und des Reiches, oder 
ob er nur Organ des Reiches ist. Der Bundesrath setzt sich zwar aus den Bevoll- 
mächtigten der Einzelstaaten zusammen; diese üben durch ihre Bevollmächtigten 
zum Bundesrathe ihre Antheilnahme an der Regierung des Deutschen Reiches aus. 
Der Bundesrath als die Gesammtheit dieser Bevollmächtigten ist aber lediglich 
Organ des Reiches, ebenso wie der ehemalige Bundestag nur Organ des 
Deutschen Bundes war. So wenig wie das preußische Herrenhaus Organ des be- 
festigten Grumpbesthes oder der großen Städte ist, ebenso wenig ist der Bundesrath 
Organ der ihn zusammensetzenden Staaten. Das einzelne Bundesrathsmitglied läßt 
sich als Organ seines Staates bezeichnen, es hat eine Doppelstellung. Der gesammte 
Bundesrath dagegen ist ein aus Organen der Einzelstaaten gebildetes Organ des 
Deutschen Reiches. Der gleichen Ansicht sind Gierke in Schmoller's Jahrbuch, 
Bd. VII, S. 50, und Kliemke, S. 26, während Laband, Reichsstaatsrecht, 1, 
S. 205, Brie in Grünhut's Zeitschrift, Bd. XI, S. 140 u. A. dem Bundesrathe 
“ Doppelstellung als Organ der Einzelstaaten und des Deutschen Reiches zu- 
reiben. 
 
	        
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