118 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
so ist er in den übrigen Hinsichten handlungsfähig, also ist er, da zur Ausübung
des Wahlrechts kein Pfleger bestellt werden kann, auch wahlfähig. Nicht wahlfähig
find 2) Personen während der Dauer des Konkursverfahrens, also von der gericht-
lichen Eröffnung bis zur gerichtlichen Schließung des Konkursverfahrens (val.
Laband, 1, S. 374). Nicht wahlfähig find 3) Personen, welche eine Armen-
unterstützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln beziehen, oder im letzten der
Wahl vorhergegangenen Jahre bezogen haben. Unterstützungen aus Krankenkassen,
Unfall-, Invaliden= und Altersrenten sind nicht Armenunterstützungen; ebensowenig
Privatgeschenke oder private Unterstützungen. Armenunterstützung ist hier auch nur,
was Jemandem für sich oder seine Familie zur Erhaltung von Leben und Gesund-
heit gegeben wird, nicht Schulgeld oder Lehrmittelfreiheit (Reichstagsbeschluß vom
25. April 1874 in den Sten. Ber. S. 1162), und selbst dies nur dann, wenn es
zufolge öffentlich#-rechtlicher Verpflichtung zur Armenunterstützung gewährt wird,
also nicht Staatsstipendien, noch Beihülfe bei Nothständen (s. auch Seydel in
Hirth's Annalen 1880, S. 161, Sten. Ber. des Reichstages 1874, S. 274). Was
im Sinne des Wahlgesetzes Armenunterstützung ist, beantwortet sich lediglich nach
reich sgesetzlichen Vorschriften (ogl. Laband, 1, S. 274, Anm. 1). Die Ab-
erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte 4) bewirkt während der im Urtheile be-
stimmten Zeit die Unfähigkeit, „in öffentlichen Angelegenheiten zu stimmen, zu
wählen oder gewählt zu werden“ (R.-Strafgesetzbuch § 34, Ziffer 4). Die hiervon
abweichende Fassung in Ziffer 4 des § 3 des Wahlgesetzes ist bedeutungslos.
Diese Fassung gewährt die Berechtigung zum Wählen bei politischen Verbrechen
oder Vergehen, auch wenn auf Ehrverlust erkannt ist. Indeß geht das Strafgesetz-
buch als das jüngere Gesetz vor, und sodann giebt es kaum Fälle, in denen
lediglich wegen eines politischen Verbrechens auf Verlust der bürgerlichen Ehren-
rechte erkannt werden kann. Im Strafgesetzbuche nämlich möchten solche Fälle kaum
zu finden sein, und in Landesgesetzen kann seit Bestehen des Strafgesetzbuches nicht
mehr Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte angedroht werden; Einführungs-Gesetz
zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund (B.-G.-Bl. 1870, S. 195), § 5 7.
Wahlberechtigt ist ein Deutscher nur in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohn-
sitz hat (§ 1 des Wahlgesetzes). Unter Wohnsitz ist hier nicht bloß ein vorüber-
gehender Aufenthalt, andererseits nicht nothwendig ein Wohnsitz im allgemein
civilrechtlichen Sinne zu verstehen; es genügt nach der Anschauung des Reichstages
auch ein Verweilen an einem Orte unter Verhältnissen, welche ihrer Natur nach
auf einen Aufenthalt von längerer Dauer hinweisen. Daher find Dienstboten,
Hand= und Fabrikarbeiter, Gewerbegehülfen und Studirende an dem Orte, wo sie
sich in dieser Eigenschaft befinden, wahlberechtigt (Kommissionsbericht des Reichs-
tages 1879, Drucksachen Nr. 160, Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 362 f.).
Fraglich ist, wo die sog. Sachsengänger wählen dürfen, ob in ihrem eigent-
lichen Wohnsitze oder an dem Orte, wo fie sich zur Zeit der Wahl aufhalten, oder
an jedem dieser beiden Orte. Die richtige Antwort ist, daß sie nur an einem
Orte wählen dürfen, und zwar an dem, welcher im Sinne des Wahlgesetzes als
ihr Wohnsitz anzusehen ist; dies ist der Aufenthaltsort nur dann, wenn sie be-
absichtigen, dort länger zu bleiben und den Mittelpunkt ihrer wirthschaftlichen
Existenz dort, wenn auch nicht für immer, zu nehmen, nicht aber, wenn sie nur
kürzere Zeit zur Vornahme einer von Anfang an zeitlich begrenzten Thätigkeit dort
sich aufzuhalten beabsichtigen. Es mögen vielleicht politische Gründe für die Auf-
fassung des Reichstages sprechen, daß solche Sachsengänger unter allen Umständen
ein doppeltes Wahlrecht haben, nämlich ein Wahlrecht am Aufenthaltsort und in
der Heimath; rechtlich kann diese Auffassung nicht als dem Wahlgesetze entsprechend
erachtet werden.
Um das Wahlrecht ausüben zu können, ist es nothwendig, in die Wählerliste
(6 8 des Wahlgesetzes) aufgenommen zu sein. Der nicht ausgenommene Wahl-
1 Vgl. auch die hiervon abweichende Darstellung von Laband, I, S. 275 f., und Seydel
in Hirth's Annalen 1880, S. 362.