120 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
Anwesende, auch wenn die Auflösung ohne gesetzlichen Grund erfolgte, sich sofort
zu entfernen haben (§ 8 der Verordnung vom 11. März 1850, Erk. des vormaligen
Ober-Tribunals vom 10. December 1868 in Oppenhoff's Rechtsprechung des
Ober-Tribunals in Strafsachen, Bd. IX, S. 720).
Die Freiheit der Wahl (die Ausübung des Wahlrechts) ist durch § 107 des
Reichsstrafgesetzbuchs geschützt, wonach, wer einen Deutschen durch Gewalt oder durch
Bedrohung mit einer strafbaren Handlung verhindert, in Ausübung seiner staats-
bürgerlichen Rechte zu wählen oder zu stimmen, mit Gefängniß nicht unter sechs
Monaten oder mit Festungshaft bis zu fünf Jahren bestraft wird. Wird die gleiche
Behinderung durch einen Beamten bewirkt, so tritt diese Bestrafung nach § 339,
Abs. 3 auch dann ein, wenn die Handlung zwar ohne Gewalt oder Drohung, aber
durch Mißbrauch der Amtsgewalt oder Androhung eines bestimmten Mißbrauchs
derselben begangen wird.
Wählbar ist jeder Reichsangehörige „im ganzen Bundesgebiete“ (§ 4 des
Wahlgesetzes), d. h. auch wenn er Angehöriger eines anderen Staates ist als in
dem des Wahlkreises. Nicht wählbar find die Fürsten und die Regenten der
Bundesstaaten (s. oben S. 43). Die Mitglieder des Bundesrathes, d. h. die
zum Bundesrathe Bevollmächtigten, können wählen und gewählt werden. Da aber
Niemand nach Artikel 9 der Reichsverfassung gleichzeitig Mitglied des Bundesraths
und des Reichstages sein kann, so muß der Bundesrathsbevollmächtigte, wenn er
gewählt ist, sich entweder für die Reichstags= oder Bundesrathsmitgliedschaft ent-
scheiden; Wahlzettel, die auf ein Bundesrathsmitglied lauten, find sonach gültig
(Arndt, Kommentar, S. 145, G. Meyer, Staatsrecht, S. 360, Laband,
I. S. 293, Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 366, Anm. 9; dgl. indeß
auch Drucksachen des Reichstages 1879, Nr. 228). Eine dem Artikel 74 der
Preußischen Verfassungsurkunde ! analoge Vorschrift, daß die Mitglieder des
Rechnungshofes für das Deutsche Reich nicht wählbar find, fehlt reichsrechtlich.
Nicht wählbar ist, wer nicht wahlberechtigt ist, also z. B. noch nicht 25 Jahre alt
ist, unter Vormundschaft steht, sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet.
Wählbar ist auch nur, wer einem zum Reiche gehörigen Staate seit mindestens
einem Jahre angehört hat (§ 4 des Wahlgesetzes). Bei Erlaß des Wahlgesetzes
gab es keine Reichsangehörigkeit ohne Staatsangehörigkeit. Es giebt aber heute
eine Reichsangehörigkeit auch ohne Staatsangehörigkeit (loben S. 50 u. 51). Demgemäß
und da nach Artikel 20 der Reichsverfassung die Wahlen allgemein und gleich für
alle Reichsangehörigen sein sollen, ist anzunehmen, daß auch solche Reichsangehörige,
welche ein Jahr die Reichsangehörigkeit besitzen, indeß die Angehörigkeit in einem
Bundesstaate nicht oder noch nicht ein Jahr besitzen, wählbar find. Ebenso müssen
Diejenigen als wählbar gelten, welche zwar nicht einem einzelnen Bundesstaate,
wohl aber mehreren im Ganzen ein Jahr angehört haben; ebenso Seydel, in
Hirth's Annalen 1880, S. 360, Anm. 2. Die einjährige Frist wird, da es sich
nur um die Frage der Wählbarkeit handelt, vom Tage der Wahl, nicht vom Tage
der Einberufung des Reichstages gerechnet (Arndt, Komm., S. 145, Laband, I,
S. 277). Wählbar find auch die, welche zwar wahlberechtigt, aber nicht wahlfähig
find, deren Recht zum Wählen nur ruht, also solche Personen, die in die Wähler-
liste nicht aufgenommen sind, oder die keinen Wohnsitz im Reiche haben ?, oder sich
zur Zeit der Wahl nicht an ihrem Wohnsitze befinden, oder die activen Militärpersonen.
§ 5 des Wahlgesetzes bestimmt, daß in jedem Bundesstaate auf durchschnittlich
100 000 Seelen derjenigen Bevölkerungszahl, welche den Wahlen zum verfassung-
gebenden Reichstage zu Grunde gelegen hat, Ein Abgeordneter gewählt, daß ein
Ueberschuß von mindestens 50 000 Seelen der Gesammtbevölkerung eines Bundes-
staates vollen 100 000 Seelen gleich gerechnet und daß in einem Bundesstaate,
dessen Bevölkerung 100 000 Seelen nicht erreicht, Ein Abgeordneter gewählt wird.
Dieser Satz hat nur enuntiative, nicht dispositive Bedeutung; er erklärt
nur, was der Gesetzgeber in Bezug auf die Zahl der Abgeordneten vorschreibt
1 In der Fassung des Ges., betr. die Ein-1872, S. 278).
richtung und die Befugnisse der Ober-Rechnungs- 2# z. B. ein deutscher Gesandter, der im Aus-
kammer vom 27. März 1872 (Preuß. Ges.-S.lande wohnt.