130 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen NReiches.
handelt aus eigenem Rechte, aber im fremden Namen. Es steht indeß nicht im
alleinigen Belieben des Kaisers, ob und wann er den Reichstag berufen, eröffnen,
vertagen oder schließen will. Nach Art. 13 der Reichsverfassung muß der Kaiser
den Reichstag alljährlich berufen, d. h. mindenstes alljährlich. Unstreitig in Theorie
(Laband, Reichsstaatsrecht, I, S. 801, Seydel, Comm., 2. Aufl., S. 167) und
Praxis (im Jahre 1870 wurde der Reichstag drei Mal einberufen) ist, daß der
Kaiser den Reichstag öfter als ein Mal im Jahre berufen kann. In der Geschichte
des Parlamentarismus hat nie ein Streit bestanden über das Recht, dagegen um
so mehr Streit über die Pflicht der Krone zur Einberufung des Parlaments: in
England zur Zeit König Karl I., in Preußen zur Zeit des vereinigten Landtages,
der um seine „Periodicität“ stritt (ogl. Arndt, Kommentar zur Preußischen Ver-
fassungsurkunde, S. 9). Daß der Kaiser den Reichstag öfter als ein Mal im
Jahre berufen kann, ergiebt sich aus dem Inhalte der Reichsverfassung, nämlich
daraus, daß dies dem Kaiser nirgends in der Reichsverfassung untersagt ist.
Erst dadurch, daß die Mitglieder des Reichstages vom Kaiser berufen find und
der Reichstag eröffnet ist, wird der Reichstag im rechtlichen Sinne existent; s. auch
Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 406. Der Reichstag hört ebenso auf,
Reichstag zu sein, wenn ihn der Kaiser aufgelöst, vertagt oder geschlossen hat. Treten
die Reichstagsabgeordneten ohne Einberufung des Reichstages zusammen oder bleiben sie
nach der Vertagung oder der Auflösung oder der Schließung versammelt, so bilden
sie einen politischen Verein oder eine politische Versammlung von Privatpersonen,
auf welche das allgemeine Recht, insbesondere die Gesetze über Vereins= und Ver-
sammlungswesen, Anwendung finden; sie bilden aber nicht den Reichstag. Ihren
Beschlüssen steht die Kraft und Eigenschaft von Reichstagsbeschlüssen nicht zu.
Rückfichtlich dessen, was in solchen Vereinen oder Versammlungen geschieht, stehen
den Mitgliedern auch nicht die verfassungsmäßigen Immunitäten und Privilegien
eines Reichstagsmitgliedes zu.
Ein indirecter Zwang, den Reichstag zu berufen, ist auch darin enthalten,
daß nach Artikel 69 der Reichsverfassung der Reichshaushalts = Etat für jedes
Jahr aufgestellt und vor Beginn des Etatsjahres durch ein Gesetz festgestellt
werden muß: durch Gesetz, also nur mit Genehmigung des Reichstages.
Ist der Reichstag ausgelöst, so wird ein Zwang, den Reichstag zu berufen,
durch die Vorschrift in Artikel 25 der Reichsverfassung begründet, welcher vor-
schreibt, daß im Falle der Auflösung des Reichstages innerhalb eines Zeitraumes
von 60 Tagen nach der Auflösung die Wähler und innerhalb eines Zeitraumes
von 90 Tagen nach der Auflösung der Reichstag versammelt werden müssen. Wenn
der Kaiser die vorstehend erwähnten Verfassungsvorschriften (Art. 12 und Art. 25)
nicht beobachtet, wenn er also etwa im Falle eines Krieges den Reichstag nicht
mindestens ein Mal im Jahre einberuft oder ihn nicht rechtzeitig nach der Auf-
lösung wieder zusammenruft, so verletzt er die Verfassung; dadurch aber erlangen
weder die einzelnen Mitglieder des Reichstages das Recht, sich als Reichstag zu
constituiren, noch die wahlberechtigten Reichsangehörigen die Befugniß, Reichstags-
abgeordnete zu wählen. Dies ergiebt sich nicht nur daraus, daß nach Artikel 12
der Reichsverfassung die Berufung, Eröffnung, Vertagung und Schließung des
Reichstages ausschließlich Sache des Kaisers ist, sondern auch aus der nachstehenden
Betrachtung: Gerade die Vorschriften über Berufung, Eröffnung, Vertagung und
Schließung des Reichstages find aus der Preußischen Verfassungsurkunde über-
nommen. Art. 25 der Reichsverfassung z. B. wiederholt den letzten Satz in Art. 51
der Preußischen Verfassungsurkunde, Art. 26 den zweiten Satz in Art. 52 der
Preußischen Verfassung. Nun besteht kein Zweifel darüber, daß sich das preußische
Abgeordnetenhaus niemals von selbst versammeln darf (Arndt, Komm. zur
Preußischen Verfassungsurkunde, S. 106 u. a. O., Schwartz, Die Verfassungs=
urkunde für den preußischen Staat, Breslau 1896, S. 146, 147). Gleiche Vor-
schriften wie in den Art. 51 und 52 der Preußischen Verfassungsurkunde vom
31. Januar 1850 fanden sich bereits in der sog. octroyirten Verfassung vom
5. December 1848. Nun hatte die Krone Preußen diesen Vorschriften zuwider,
nachdem sie die damalige zweite Kammer durch Verordnung vom 27. April 1849