132 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
versassung, S. 155, Anm. 2, Laband, Reichsstaatsrecht, 1, S. 303 u. A. m.).
Das Recht des Kaisers, den Reichstag zu vertagen, ist durch Art. 26 der Reichs-
verfassung (Art. 52 der Preuß. Verfassung) dahin eingeschränkt, daß ohne Zu-
stimmung des Reichstages die Vertagung des Reichstages die Frist von dreißig
Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden
darf. Auch Art. 26 ist ebenso wie Art. 25 lex imperfecta. Der Reichstag hat, so
oft und so lange er vertagt wird, auseinanderzugehen. Er ist, so lange solche
Vertagungen dauern, nicht als Reichstag anzusehen. Selbstredend würde der
Reichskanzler für solche verfassungswidrigen Vertagungen verantwortlich sein.
Darüber kann kein Zweifel bestehen, daß der Reichstag dadurch, daß er verspätet
zusammenberufen oder verspätet eröffnet ist, oder daß er erst nach mehr als dreißig-
tägiger Vertagung wieder zusammentritt, nicht aufhört, Reichstag im Sinne der
Reichsverfassung zu sein, und daß seine Beschlüsse rechtsgültig und rechtsbeständig
find Golz auc Arndt, Komm. zur Preuß. Verf., Anm. 7 zu Art. 51, S. 107
und S. 20).
Vertagung im Sinne des Artikels 26 der Reichsverfassung ist das „Vertagt-
werden“ im Gegensatze zu dem „Sichvertagen“, was nur in dem oben S. 131 be-
zeichneten Umfange statthaft ist. Nur vom Sichvertagen kann in den Geschäfts-
ordnungen des Reichstages die Rede sein, das „Vertagtwerden“, „prorogation“ im
Sinne des englischen Staatsrechtes, geschieht durch den Kaiser 1. Ueber den Be-
griff und den Unterschied von „Vertagung“" und „Schließung“ enthalten
weder die Reichsverfassung, noch die Preußische Verfassung nähere Vorschriften.
Die Vertagung hat nach dem Brauche der Parlamente (val. v. Rönne, Preuß.
Staatsrecht, 4. Aufl., I, § 69, S. 277 f.), insbesondere des preußischen Landtages,
der communis opinio und demgemäß auch nach der muthmaßlichen Absicht der
Reichsverfassung den Zweck, in gewissen, dem Ermessen der Krone anheimgegebenen
Fällen, so z. B. wenn kein Verhandlungsstoff vorliegt oder die Auflösung vor-
bereitet werden soll, oder die Regierung die Fassung von Beschlüssen oder die
Stellung von Interpellationen hinausschieben oder vermeiden will, eine Unter-
brechung der Thätigkeit des Landtages auf eine bestimmte Zeit eintreten zu lassen,
ohne daß der Landtag geschlossen oder aufgelöst wird. Die Vertagung auch im
Sinne des Vertagtwerdens hemmt die Thätigkeit des Landtages nur auf Zeit,
hebt sie aber nicht vollends auf?, so daß nach Ablauf der Vertagunoesfain der
Landtag von selbst, ohne Kaiserliche Einberufung, wieder zusammentreten
darf. Die Kammer (und der Reichstag) brauchen sich nach der Vertagung
nicht wieder neu zu constituiren, sie behalten ihr Präfidium bei, alle vor der
Vertagung bestellten Kommissionen brauchen nicht von Neuem gewählt zu werden
und können ihre Thätigkeit während der Vertagung fortsetzen, zum Mindesten
sie aber nach der Vertagung an dem Punkte wieder aufnehmen, wo fie diese ab-
gebrochen haben. Dagegen haben die Schließung und die Auflösung zur Wirkung,
daß alsbald jede Thätigkeit des Landtages (des Reichstages) vollständig beendet
wird. Tritt in solchen Fällen der Landtag (Reichstag) wieder zusammen, so muß
er sich von Neuem constituiren; er kann auch die Geschäfte nicht wieder an dem
Punkte aufnehmen, wo fie verlassen wurden. Vielmehr gelten alle bis dahin statt-
gefundenen Lesungen und Kommissionsberathungen als nicht geschehen. Dies ist
auch anerkannt in § 70 der Geschäftsordnung für den deutschen Reichstag vom
10. Februar 1876: „Gesetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen sind mit dem Ab-
laufe der Sitzungsperiode, in welcher fie eingebracht und noch nicht zur Beschluß-
nahme gediehen find, für erledigt zu erachten.“
Daß der in Vorstehendem beschriebene Parlamentsgebrauch der Reichsverfassung
entspricht, ergiebt sich übrigens auch aus dem Sinne der Worte „Vertagung"“ und
1 Vgl. die Ausführungen Gneist's in der S. 277. Z
Anlate A zum Kommissionsbericht des preußi- 2 Dies erkennt auch das Reichsgericht an in
sen bgeordnetenhauses vom 15. Juli 1862 in lder Entscheidung vom 25. Februar 1892, Entsch.
en Sten. Ber. 1862, Bd. VI, S. 633 ff., des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. XXII,
v. Rönne, Preuß. Staatsrecht, 4. Aufl., § 65,S. 379, bes S. 384 ff.