Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

134 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches. 
Ansicht auf die nachstehende Erwägung (v. Rönne, J. c.): Sobald die neuen 
Wahlen stattgefunden haben, bilden die Neugewählten den Reichstag, und die 
Abgeordneten der abgelaufenen Legislaturperiode treten in dem Augenblicke ab, mit 
welchem die Legislaturperivde abgelaufen ist. Deshalb müsse aber auch angenommen 
werden, daß der Tag der allgemeinen Wahlen, nicht aber der Tag der Ein- 
berufung des ersten auf die Wahlen folgenden Reichstages den Anfangspunkt der 
jedesmaligen Legislaturperiode bilde. Schon mit dem Wahltage beginne das 
Mandat der Abgeordneten, nicht erst die Einberufung begründe ihr Mandat, 
und dieses auf den Wahlen beruhende Mandat dauere für den in Artikel 24 der 
Reichsverfassung festgesetzten Zeitraum der Legislaturperiode —, es sei also jeder 
Gewählte für den Zeitraum des ihm durch die Wahl ertheilten Mandats an und 
für sich für einen fünfjährigen Zeitraum legitimirt. Solchergestalt habe das 
Gesetz den Zeitraum bestimmt, mit welchem das Mandat beginne und ablaufe, 
wogegen es lediglich in der Hand der Regierung liegen würde, den Beginn und 
den Ablauf des Mandats der Abgeordneten zu bestimmen, wenn man den Tag der 
ersten Einberufung für normirend erachten wollte. Gegen diese Begründung spricht 
Folgendes: Da die Regierung den Reichstag, wann und so oft sie will, auflösen 
kann, so ist es keineswegs allein das Gesetz, sondern auch der Wille der Regierung, 
welcher den Ablauf des Mandats der Abgeordneten bestimmt. Es ist sodann un- 
bestreitbar, daß der Abgeordnete als solcher erst dann thätig werden kann und mit 
dessen Immunitäten erst dann ausgerüstet wird, wenn der Land-(Reichs-s#tag auf Ein- 
berufung versammelt ist; vgl. selbst Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 406, 
Seydel, Bayerisches Staatsrecht, II, S. 196, v. Rönne, Preuß. Staatsrecht, 
4. Aufl., I, § 62, S. 267 ff. und § 65, S. 282. Artikel 24 der Reichs- 
verfassung spricht nunnicht von der Dauer des Reichstagsmandats, 
sondern von der Dauer der Legislaturperiode. An der Gesetz- 
gebung kann der Abgeordnete aber erst mitwirken, wenn der Reichs- 
tag einberufen ist. Die vorerwähnte Argumentation von Rönne's, die 
im letzten Grunde auf dem weder in Preußen, noch im Reiche anerkannten Principe 
der Volkssouveränetät beruht, ist die nämliche, mit welcher die Kommission der 
Nationalversammlung im Jahre 1848 das Recht der Abgeordneten zum Selbst- 
zusammentreten zu rechtfertigen versuchte. Eine Legislaturperiode setzt eine gesetz- 
gebende Körperschaft voraus; eine solche entsteht aber nach Reichs= und preußischem 
Staatsrecht nicht schon durch die Wahl seiner Mitglieder, sondern erst durch Zu- 
sammentreten nach zuvor erfolgter Zusammenberufung. 
Allerdings findet sich eine Stelle in den Motiven des Entwurfs eines Wahl- 
gesetzes für den Norddeutschen Bund (Actenstücke 1869, Bd. III, Nr. 17, S. 143), 
worin bemerkt wird, daß die erste Legislaturperiode des norddeutschen Reichstages 
am 831. August 1870 ihr Ende erreiche: „da die allgemeinen Wahlen für diese 
Legislaturperiode am 31. August 1867 vollzogen worden seien“. Allein, was 
v. Rönne, Reichsstaatsrecht, I, § 29, S. 252, übersehen zu haben scheint, die 
Reichsregierung hat sich alsbald von dieser ganz beiläufigen Bemerkung losgesagt 
und sich ausdrücklich zu der Ansicht und Praxis der preußischen Staatsregierung 
bekannt, welche stets dahin ging, daß nicht der Tag der Neuwahlen, sondern der 
Tag des ersten Zusammentretens der Gewählten für den Beginn der Legislatur- 
periode als maßgebend zu erachten ist (s. den Aufsatz des Staatsministers Herr- 
furth in Nr. 1 der Deutschen Juristenzeitung vom 1. Januar 1898). Diese 
Ansicht wird auch vertreten von Arndt, Komm. zur Reichsverfassung, S. 158, 
Derselbe, Komm. zur Preuß. Verfassungsurkunde, dem sich v. Stengel, Preuß. 
Staatsrecht, S. 81, angeschlossen hat. Für diese Ansicht spricht außer dem Vor- 
angeführten noch der Umstand, daß sie der Preußischen Verfassung entspricht, welcher 
(Art. 73) die bezügliche Vorschrift in Art. 28 der Reichsverfassung wörtlich ent- 
nommen ist. Nach dieser Richtung trägt v. Rönne selbst vor (Reichsstaatsrecht, 
I, § 29, S. 252, Anm. 1 u. a. O.): „In dem jetzt aufxgehobenen Artikel 66 der 
Preuß. Verfassungsurkunde war der Zeitpunkt, mit welchem die vormalige erste 
Kammer nach ihrer Neubildung in Wirksamkeit treten sollte, auf den 7. August 1857 
 
	        
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