§ 20. Die Rechte des deutschen Reichstages. 137
Daraus folgt, daß der Kaiser den Tag der Wahl nach eigenem Belieben ansetzen
kann, vor oder nach Schluß der Legislaturperiode. Die Preußische Verfassung be-
stimmt in Artikel 75, daß die Kammern nach Ablauf ihrer Legislatur-
periode neu gewählt werden sollen, v. Rönne folgert (Reichsstaatsrecht, I, § 29,
S. 254) aus allgemeinen Gründen, daß der Kaiser die Wahlen einerseits nicht
vor Schluß, andererseits aber alsbald nach Schluß der Legislaturperiode vor-
nehmen lassen muß. Da der Etat alljährlich im Voraus durch Gesetz festzustellen,
der Reichstag auch alljährlich einzuberufen ist, so ist dafür gesorgt, daß der Kaiser
nicht nach Willkür Wahlen zum Reichstage auf beliebig lange Zeit hinausschieben
kann. Selbstredend kann der neu gewählte Reichstag erst auf einen Tag einberufen
werden, an welchem die Legislaturperiode des alten (nicht aufgelösten) Reichstages
bereits abgelaufen ist.
Oeffentlichkeit der Sitzungen.
Was nun die Thätigkeit des Reichstages anlangt, so bestimmt Art. 22, Abf. 1
der Reichsverfassung, daß die Verhandlungen des Reichstages öffentlich find.
Damit steht es nicht in Widerspruch, daß nach § 27 der Geschäftsordnung für den
deutschen Reichstag die Kommissionsverhandlungen nur für die Reichstags-
mitglieder öffentlich sind, und daß der Reichstag die Oeffentlichkeit der Kommissions-=
verhandlungen auch für diejenigen Mitglieder des Reichstages ausschließen kann,
welche nicht Mitglieder der Kommission find. Denn Art. 22 hat nur die Verhand-
lungen des Reichstages zum Gegenstande. Fraglich ist dagegen, ob § 36 der Ge-
schäftsordnung rechtsbeständig ist, der lautet:
„Die Sitzungen des Reichstages find öffentlich. Der Reichstag tritt
auf Antrag seines Präfidenten, oder von zehn Mitgliedern, zu einer geheimen
Sitzung zusammen, in welcher dann zunächst über den Antrag auf Ausschluß
der Oeffentlichkeit zu verhandeln ist.“
Die Autonomie des Reichstages geht nicht so weit, Verfassungs= oder Gesetzes-
vorschriften, insbesondere die im ersten Satze des Artikels 22 gegebene Vorschrift,
aufzuheben und den zweiten Satz des Artikels 79 der Preußischen Verfassungs-
urkunde zum Bestandtheil seiner Geschäftsordnung und des geltenden Rechts zu
machen (ebenso Arndt, Komm., S. 151, Seydel, Comm., S. 198, Laband,
1I. S. 306; vgl. dagegen v. Rönne, Reichsstaatsrecht, I. S. 282, Thudichum,
Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes, S. 192, G. Meyer, Lehrbuch des
deutschen Staatsrechts, § 132, Anm. 21, Riedel, Die Reichsverfassungsurkunde,
S. 112). Ein in einer geheimen Sitzung gefaßter Beschluß des Reichstages ist
nichtig. Die geheim stattgefundenen Berathungen und Beschlüsse gelten staats-
rechtlich nicht als Reichstagsverhandlungen oder Reichstagsbeschlüsse. Der Reichstag
wird die entscheidende Berathung und Abstimmung daher öffentlich vornehmen
müssen, auch wenn schon vorher heimlich berathen ist.
Als eine Verletzung der vorgeschriebenen Oeffentlichkeit ist es nicht anzu-
sehen, daß der Präsident des Reichstages die Zuschauertribünen räumen lassen kann,
wenn dort eine störende Unruhe entsteht, oder daß er diejenigen von der Tribüne
entfernen lassen kann, welche dort Zeichen des Beifalls oder des Mißfallens geben
oder sonst die Ordnung oder den Anstand verletzen (Geschäftsordnung für den
beutschen Reichstag, §§ 64, 67).
Berichte über Reichstagsverhandlungen.
Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen
des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei (Reichsverfassung Art. 22,
Abs. 2), und zwar gleichviel, ob fie von Reichstagsabgeordneten oder von einem
Anderen, ob schriftlich oder mündlich erstattet werden (Binding, Handbuch des
deutschen Strafrechts, S. 683, Olshausen, Comm, zum Strafgesetzbuch, S. 82).
Was als ein wahrheitsgetreuer Bericht zu gelten hat, ist auaestio facti; nicht sind
es Berichte über einzelne Stellen oder Bemerkungen über dieselben, noch weniger