8 W. Die Rechte des deutschen Reichstages. 141
die §§ 46 und 60 mit der Frage der Disciplin. § 46 bestimmt: „Der Präßddent
ist berechtigt, die Redner auf den Gegenstand der Versammlung zurückzuweisen und
zur Ordnung zu rufen (§ 60). Ist das Eine oder das Andere in der nämlichen
Rede zweimal ohne Erfolg geschehen und fährt der Redner fort, sich vom Gegen-
stande oder von der Ordnung zu entfernen, so kann die Versammlung auf die An-
frage des Präsidenten ohne Debatte beschließen, daß ihm das Wort über den vorliegenden
Gegenstand genommen werden solle, wenn er zuvor auf diese Folge vom Präsi-
denten aufmerksam gemacht ist.“ § 60, Abs. 2: „Wenn ein Mitglied die Ordnung
verletzt, so wird es vom Präsidenten mit Nennung des Namens darauf zurück-
gewiesen.“ Abs. 3: „Im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung kann das Mit-
glied durch den Präsidenten von der Sitzung ausgeschlossen werden. Leistet dasselbe
der Aufforderung des Präfidenten zum Verlassen des Saales keine Folge, so hat
der Präfident in Gemäßheit des § 61 dieser Geschäftsordnung zu verfahren“ (d. h.
er kann die Sitzung aussetzen oder ganz aufheben). Abs. 3: „Das zur Ordnung
gerufene oder ausgeschlossene Mitglied ist berechtigt, spätestens am folgenden Tage
schriftlich Einspruch zu erheben, auf welchen der Reichstag, jedoch nicht vor dem
darauffolgenden Tage, ohne Discussion darüber entscheidet, ob der Ordnungsruf
oder die Ausweifsung gerechtfertigt war.“
Nach dem Vorbilde der Absätze 2 bis 4 in Artikel 84 der Preußischen Ver-
fassungsurkunde enthält der auf Antrag des Abgeordneten Lette (Sten. Ber. des
verfassungberathenden Reichstages 1867, S. 468 f.) beschlossene Artikel 31 der Reichs-
verfassung die nachfolgenden Vorschriften:
„Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung
zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Aus-
übung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.
Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden er-
forderlich.
Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mit-
glied desselben und jede Untersuchungs= oder Civilhaft für die Dauer der
Sitzungsperiode aufgehoben.“
Es find folgende fünf Fälle auseinander zu halten:
1) Es schwebt noch kein Strafverfahren, und der Abgeordnete ist nicht bei Aus-
übung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen. Hier ist zur
Einleitung jeder strafgerichtlichen Untersuchung, zur Vornahme einer Haussuchung,
zur Einleitung der Voruntersuchung oder jeder anderen Art der Erhebung der
öffentlichen Klage, ja selbst zur Einleitung des sog. Vorbereitungsverfahrens, endlich
auch zur Einleitung der Disciplinaruntersuchung oder zu polizeilichen Handlungen,
soweit sich diese gegen die Person eines Abgeordneten richten, die Genehmigung des
Reichstages nothwendig; s. Arndt, Komm., S. 213, Seydel, Comm., S. 213,
und bef. Erk. des Reichsgerichts vom 25. Februar 1892, Entsch. in Strassachen,
Bd. XXII, S. 379 ff., in welchem aus der Entstehungsgeschichte des Art. 84 der
Preuß. Verfassung nachgewiesen wird, daß zur Untersuchung ziehen gleichbedeutend
ist mit Einleitung eines Strafverfahrens. Es ist dabei unerheblich, ob die Unter-
suchungshandlung unmittelbar oder mittelbar gegen die Person des Abgeordneten
gerichtet ist, ob also ihre Ausführung die Anwesenheit des Abgeordneten erfordert
oder nicht; s. auch Erk. des Reichsgerichts vom 24. Juni 1892, Entsch. in Straff.,
Bd. XXIII, S. 184 ff. Die Genehmigung des Reichstages ist die Vorbedingung
(die Proceßvoraussetzung, s. das citirte Erk. des Reichsgerichts vom 24. Juni 1892,
und Sonntag, Der besondere Schutz der Mitglieder des deutschen Reichstages
und der deutschen Landtage gegen Strafverfolgung und Verhaftung, Breslau 1895,
S. 30 f.), daß die Untersuchung eingeleitet oder die Verhaftung vorgenommen werden
darf. Ohne diese Genehmigung vorgenommene Untersuchungshandlungen find recht-
lich wirkungslos. Trotzdem Art. 31 der Reichsverfassung die Möglichkeit entzieht,
richterliche Untersuchungshandlungen vorzunehmen und die Verjährung der Straf-
verfolgung zu unterbrechen (Strafgesetzbuch § 69), so hemmte früher die Immunität
des Abgeordneten nicht den Lauf der Verjährung (Erk. des Reichsgerichts vom