146 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
gebung zulässig sind, so hat der Reichstag auch das Recht, Verfassungsänderungen,
insbesondere Zuständigkeitserweiterungen, in Vorschlag zu bringen. Dies ist nun-
mehr in der Praxis unstreitig (siehe weiter unten).
3) Petitionen.
3) „Der Reichstag hat das Recht ... (Art. 23), an ihn gerichtete Petitionen
dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen.“ Petitionen, Bitten, Wünsche
kann Jedermann, ob Inländer oder Ausländer, direct an den Bundesrath oder an
den Reichskanzler richten. Es ist selbstverständlich, daß der Reichstag dabei die
Vermittelung übernehmen und Petitionen an den Bundesrath oder an den Reichs-
kanzler weitergeben kann. Der Zweck und Inhalt der Vorschrift in Art. 23 muß
danach ein weitergehender sein, nicht etwa, daß der Reichstag gewissermaßen die
Stellung eines öffentlich-rechtlichen Rügegerichts den Verwaltungsbehörden gegen-
über hat 1, sondern daß der Reichstag die Petitionen, wenn er sie nach zuvoriger
Prüfung nicht durch Uebergang zur Tagesordnung oder Nichtberücksichtigung er-
ledigen will, mit seinem eigenen Petitum und gewissermaßen seiner eigenen
Autorität versehen und weitergeben darf. Zur Prüfung der Petitionen bildet der
Reichstag eine besondere, die sog. Petitions-Kommission (§ 26 der Geschäftsordnung).
Der Inhalt der eingehenden Petitionen ist von dieser Kommission allwöchentlich
durch eine in tabellarischer Form zu fertigende Zusammenstellung zur Kenntniß der
einzelnen Mitglieder des Reichstages zu bringen. Zur weiteren Erörterung im
Reichstage gelangen diejenigen Petitionen, bei welchen auf solche Erörterungen ent-
weder von der Kommission oder von 15 Mitgliedern angetragen wird. Geht der
Antrag von der Kommission aus, so hat sie über die von ihr zur Diskussion ver-
wiesene Petition einen Bericht zu erstatten; geht der Antrag von anderen Reichs-
tagsmitgliedern aus, so bedarf er, um im Plenum verhandelt zu werden, der Unter-
stützung von dreißig Mitgliedern (§ 28 der Geschäftsordnung für den deutschen
Reichstag). Die Weitergabe der Petition durch den Reichstag, insbesondere wenn
sie zur Kenntniß oder zur Berücksichtigung erfolgt, verstärkt das Gewicht der
Petition. Bei der Autorität, die ein Factor der Gesetzgebung hat, und bei der
Rücksicht, die auf einen solchen Factor naturgemäß genommen wird, fällt eine
Ueberweisung der Petition an die Reichsregierung „zur Berücksichtigung“ politisch
und moralisch nicht leicht ins Gewicht. Eine rechtlich-erzwingbare Folge hat eine solche
Ueberweisung indeß nicht. Die Reichsregierung ist durch keinen Rechtssatz ver-
pflichtet, der Petition Folge zu geben; ja es besteht nicht einmal ein Rechtssatz,
der die Reichsregierung zwingt, auch nur Auskunft über das zu geben, was sie auf
die Petition beschlossen hat. Indessen hat der Bundesrath sich bereit erklärt, dem
Reichstage alljährlich Auskunft über die Beschlüsse zu ertheilen, welche er auf solche
Petitionen oder andere Anträge des Reichstages gefaßt hat (Schreiben des Reichs-
kanzlers vom 14. März 18783 in den Sten. Ber. des Reichstages 1873, Bd. III,
Actenstück Nr. 14, S. 60). Selbstredend kann der Bundesrath jederzeit von dieser
Erklärung im Allgemeinen oder in einem besonderen Falle wieder abweichen. Der
Reichstag seinerseits ist durch keine Rechtsvorschrift gehindert, Petitionen auch von
Ausländern weiterzugeben oder Petitionen selbst in solchen Fällen in Berathung zu
nehmen und zu überweisen, in denen der Instanzenzug noch nicht erschöpft ist,
obwohl weder das Eine, noch das Andere thatsächlich zu geschehen pflegt (vgl. Sten.
Ber. des Reichstages 1871, I, S. 567).
Aus dem Rechte des Reichstages, Petitionen der Reichsregierung zu über-
weisen, folgt nichts über das Recht von Privatpersonen, dessen Inhalt und Umfang,
Petitionen an den Reichstag zu richten (vgl. Erk. des Oberverwaltungsgerichts vom
10. März 1886, Entsch. Bd. XIII. S. 89, Arndt, Komm. zur Preuß. Verf.,
S. 84, und weiter unten).
1 Ansicht Laband's, I, S. 269.