150 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen Reiches.
es darauf nicht ankommt, ob eine Anzahl von Mandaten erledigt oder noch nicht
eingenommen und daß der Reichstag in allen Fällen nur bei Anwesenheit von
wenigstens stets 199 Mitgliedern beschlußfähig ist.
Es ergiebt sich dies auch aus der Begründung des Antrags Harnier durch
den Antragsteller. Darin heißt es (Sten. Ber. S. 467):
„Wir haben nun geglaubt, zu diesem Zwecke vorschlagen zu sollen, daß
man die Bestimmung der Preußischen Verfassung über die Beschlußfähigkeit
des Abgeordnetenhauses aus Artikel 80 der Preußischen Verfassung hier
wörtlich übernehme, daß man also zur Gültigkeit der Beschlußfassung die
Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder
für erforderlich erkläre. Durch diese bereits bewährte Bestimmung wird
zunächst erreicht, daß die beschlußfähige Zahl ein für alle Mal feststeht.
Wollen Sie umgekehrt etwa sagen, es solle die Mehrheit der wirklich ein-
getretenen Reichstagsmitglieder zur Beschlußfähigkeit genügen, so wäre da-
mit ausgesprochen, daß in jedem Falle, wo es auf Feststellung der Beschluß-
fähigkeit ankommt, zuvor festgestellt werden müßte, wieviel die Gesamtheit
der eingetretenen Mitglieder sei, wieviel also an dem Tage die Mehrheit
sei; denn die Zahl der eingetretenen Mitglieder ist ja dem Wechsel unter-
worfen durch — — Tod, Niederlegung des Mandats —“
Der Antrag wurde, wie zu bemerken ist, ohne Widerspruch zu finden,
angenommen. .
Zur Gültigkeit eines Beschlusses ist nur nothwendig, daß die Mehrheit der
gesetzlichen Anzahl der Mitglieder anwesend war, nicht auch, daß diese Mehrheit
an der Beschlußfassung Theil genommen hat. Anwesende, welche sich der
Stimme enthalten, werden bei der Frage, ob Beschlußfähigkeit vorliegt, also mitgezählt
(Arndt, Komm. zur Reichsverf., S. 157, Seydel, Comm., S. 209, ferner
Präsident Simson in der Sitzung vom 13. Mai 1872 in den Sten. Ber.
des Reichstages, S. 3338).
Aber nur zur Beschlußfassung, nicht zur Berathung ist die Anwesen-
heit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich; ebenso die
Praxis im Reichstage, wie im preußischen Abgeordnetenhause, Seydel, in Hirth's
Annalen 1880, S. 423, Seydel, Comm., S. 210, Laband, 1, S. 302,
v. Rönne, Reichsstaatsrecht, 1, § 32, S. 258 f., Arndt, Komm., S. 157, und
Sten. Ber. des Reichstages 1868, S. 249 ff. u. 457 ff. Ein Beschluß des Reichs-
tages, bei dem 199 Mitglieder nicht anwesend waren, muß daher als nichtig,
als kein gültiger Beschluß gelten (Seydel, Comm., S. 210, Laband, I,
S. 307, Anm. 3). Wenn dies als unstreitig gelten kann, so ist es doch fraglich,
ob der Mangel der Beschlußfähigkeit nur vom Reichstage oder von Reichstags-
mitgliedern oder von dritter Seite (Kaiser, Bundesrath) gerügt werden kann. Die
Geschäftsordnung für den Reichstag bestimmt darüber Folgendes, § 54: „Unmittelbar
vor der Abstimmung ist die Frage zu verlesen. Ist vor einer Abstimmung in
Folge einer darüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer der fungirenden
Schriftführer zweifelhaft, ob eine beschlußfähige Anzahl von Mitgliedern anwesend
sei, so erfolgt der Namensaufruf. Erklärt dagegen auf die Bemerkung oder den von
einem Mitgliede gestellten Antrag auf Auszählung des Haufes der Präsident, daß
kein Mitglied des Bureaus über die Anwesenheit der beschlußfähigen Anzahl
zweifelhaft sei, so find damit Bemerkung und Antrag erledigt.“ Aus diesem Grunde,
sowie weil zufolge des Art. 27 der Reichsverfassung der Reichstag seinen Geschäfts-
gang selbst regelt, wird vielfach angenommen, z. B. durch v. Rönne, Reichsstaats-
recht, I, § 32, S. 259, Seydel, Comm., S. 260, daß (nur) dem Reichstage die
Entscheidung über diese Frage zustehe, und daß, wenn der Reichstag einen Beschluß
gefaßt hat, die Behauptung, daß nicht die beschlußfähige Anzahl der Mitglieder
anwesend gewesen, unstatthaft und nicht zu berücksichtigen sei. Dieser Anficht muß
widersprochen werden. Die Geschäftsordnung für den Reichstag kann weder den
Kaiser, noch den Bundesrath binden. Noch weniger kann sie die Vorschrift auf-
heben, welche Artikel 28 der Reichsverfassung aufstellt. Auch haben neben dem
Reichstage Kaiser wie Bundesrath ein eigenes und selbstständiges Interesse