Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 21. Die Zuständigkeit des deutschen Reichstages. 151 
daran, daß der Reichstag nicht bei Anwesenheit jeder ihm genehmen, sondern nur 
bei Anwesenheit der durch die Verfassung vorgeschriebenen Zahl von Mitgliedern 
Beschlüsse faßt. Die Verfassung hat zwar im Allgemeinen dem Reichstage die 
Regelung seines Geschäftsganges überlassen, darüber aber, wieviel Mitglieder bei 
einem Beschlusse anwesend sein müssen, hat fie selbst eine zwingende, durch den 
Reichstag unabänderbare Vorschrift getroffen. Dazu tritt noch, daß nach der Ge- 
schäftsordnung das Reichstagspräfidium nicht in allen Fällen und nicht von Amts 
wegen, sondern nur auf Antrag (auf eine „Bemerkung“) die Beschlußfähigkeit zu 
prüfen hat (s. auch Laband, 1, S. 307, Anm. 3). 
Aus diesen Erwägungen ist zu folgern, daß Kaiser und Bundesrath Beschlüsse 
des Reichstages, welche nicht bei Anwesenheit einer beschlußfähigen Anzahl von 
Reichstagsmitgliedern gefaßt find, nicht anzuerkennen brauchen, daß sie auf die 
Wiederholung der Abstimmung dringen dürfen, und daß der Kaiser die Ausfertigung 
und Verkündung der Gesetze verweigern kann, welche nicht gemäß der Vorschrift in 
Artikel 28 der Reichsverfassung ergangen find. 
Ebensowenig wie der Inhalt des Artikels 28 kann der Artikel 9 der Reichs- 
verfassung durch die Geschäftsordnung des Reichstages berührt werden. Artikel 9 
Satz 1 lautet: 
„Jedes Mitglied des Bundesrathes hat das Recht, im Reichstage zu 
erscheinen und muß daselbst auf Verlangen jederzeit gehört werden, um die 
Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieselben von der 
Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden find."“ 
Demgemäß bestimmt § 43 der Geschäftsordnung für den Reichstag: „Die 
Mitglieder des Bundesrathes und die zu ihrer Vertretung abgeordneten Kom- 
missarien müssen auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden. Auch den 
Assistenten muß auf Verlangen der Mitglieder des Bundesrathes oder ihrer Ver- 
treter das Wort ertheilt werden.“ § 48, Abs. 1: „Nimmt ein Vertreter des 
Bundesrathes nach dem Schlusse der Diskussion das Wort, so gilt diese auf's 
Neue für eröffnet.“ Hiernach können die Bundesrathsvertreter bis zur Abstimmung 
verlangen, daß sie das Wort erhalten. Unzweifelhaft kann ihnen nicht, wie Reichs- 
tagsmitgliedern, das Wort zur Strafe entzogen werden; fraglich ist aber, ob und 
wie weit sie dem Ordnungsrufe und der Disciplin des Reichstagspräfidenten unter- 
stellt fjind. Die herrschende Meinung geht dahin, daß Bundesrathsvertreter zwar 
der „eigentlichen Disciplin des Präsidenten und dem eigentlichen Ordnungs- 
rufe" nicht unterliegen (Worte des Präsidenten Simson am 14. Mai 1873 in 
den Sten. Ber. des Reichstages 18783, 1, S. 655), daß fie aber während ihrer 
Nede unterbrochen und auf das Unparlamentarische ihrer Ausdrucksweise aufmerksam 
gemacht werden können „im Verhältnisse von gleich zu gleich" (s. Seydel, Comm., 
S. 209, v. Rönne, Reichsstaatsrecht, I. S. 288; vgl. auch v. Rönne, Preuß. 
Staatsr., 4. Aufl., I. S. 343 f., Schulze, Preuß. Staatsrecht, I, S. 629). Dieser 
Ansicht muß unbedingt widersprochen werden, obwohl hie und da ein Bundesraths- 
vertreter sich eine Zurechtweisung des Reichstagspräfidenten gefallen ließ (z. B. der 
mecklenburgische Bundesrathsbevollmächtigte v. Oertzen am 20. Februar 1895, 
Sten. Ber. des Reichstages 1894/95, S. 1013). Die Unterbrechung durch den 
Präsidenten und der Hinweis auf den parlamentarischen Brauch ist in der Sache 
weiter nichts als ein Ordnungsruf und hat in der Sache ganz dieselbe Wirkung. 
Da Artikel 78, Abs. 1 der Preußischen Verfassung gleichlautend mit Artikel 28 der 
  
1 Dies liiegt offen in den Worten Simsons wenig, wie ein anderer Reichstagspräsident. 
am 14. Ma# 1873, Sten. Ber. des Reichstages Der Grund, aus dem nach Simson's Meinung 
IIS65 : — „dann bleibt dem Präsidenten, ein formeller Ordnungsruf gegen Bundesraths- 
um die ihm gestellte und gegen Jedermann mitglieder unzulässig sei — weil diese den 
durchzuführende Aufgabe der Aufrechterhaltung Präsidenten nicht mitgewählt haben —, ist auch 
der Ordnung zu lösen, nichts übrig, als er= falsch. Nicht darauf, wer den Präsidenten ge- 
forderlichen Baus denselben Gedanken in wählt hat, kommt es an, sondern darauf, ob 
wweii verschiedenen Formen auszu = der Präsident als solcher irgend welche Kritik 
prechen.“ Eine dem Bundesrath gegenüber an dem Souverän im Reiche üben darf. 
zu lösende Aufgabe hatte Dr. Simson ebenso- 
 
	        
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