152 Drittes Buch. Die Organisation des Deutschen RNeiches.
Reichsverfassung ist, so ist es von Interesse, daß sowohl der König von Preußen,
wie das preußische Staatsministerium ein solches Recht dem Landtagspräfidenten
bestritten haben (Sten. Ber. des preuß. Abgeordnetenhauses 1863, Bd. II,
S. 1262 ff. und 1322 ff.; s. auch Arndt, Komm. zur Preuß. Verf., S. 117 f.,
und Dr. Schwartz, Comm., S. 190 f.). Es kann nicht schwer fallen, die richtige
Lösung der Frage zu finden, wenn man erwägt, daß auf Grund des Artikels 9 der
Reichsverfassung nicht eine beliebige Person für sich spricht, sondern daß ein
Bundesstaat durch seinen Bevollmächtigten seine Ansicht, nämlich die Ansicht
des Staates, ausspricht. Der Präsident des Reichstages hat nicht das mindeste
Recht dazu, gegen die Kronen Preußen, Bayern u. f. w. irgend welche Kritik zu
üben. Es kann nicht angenommen werden, daß ein Bundesstaat zu einer Gesetzes-
verletzung, etwa zu einem Verfassungsbruche, auffordern läßt. Sollte es selbst
vorkommen, so hat der Präfident als solcher noch immer kein Recht, dies zu prüfen,
darüber zu richten und den Bundesstaatsvertreter an der Fortsetzung seiner Rede
zu hindern (vgl. die abweichende Ansicht von Schwartz, Comm., S. 191).
Im Rahmen der Reichsverfassung und unbeschadet aller Rechte von Kaiser und
Bundesrath kann die Geschäftsordnung den Geschäftsgang beim Reichstage und
die Disciplin, welche dem Reichstage über seine Mitglieder zusteht, autonom regeln.
Die Regelung erfolgte zuletzt durch die von den späteren Reichstagen mit einem
Zusatze in § 60 (s. oben S. 128) acceptirte Geschäftsordnung vom 10. December
1876. Diese bestimmt namentlich, daß der Reichstag in sieben Abtheilungen von
möglichst gleicher Mitgliederzahl durch das Loos getheilt wird (§ 2), daß die Wahl
der Präsidenten durch Stimmzettel nach absoluter Stimmenmehrheit erfolgt (8 9);
daß die Wahl der acht Schriftführer in einer einzigen Wahlhandlung nach rela-
tiver Stimmenmehrheit! # erfolgt (§ 10); daß dem Präfsidenten die Leitung
der Verhandlungen, die Handhabung der Ordnung und die Vertretung des Reichs-
tages nach außen obliegt, daß er das Recht hat, den Sitzungen der Abtheilungen
und Kommissionen mit berathender Stimme beizuwohnen (§ 13); daß die Schrift-
führer für die Aufnahme des Protokolls und den Druck der Verhandlungen zu
sorgen, daher auch die Revision der stenographischen Berichte zu überwachen haben
(§ 15). Ueber Vorlagen des Bundesrathes, sowie über Anträge von Mitgliedern
des Reichstages wird nach Maßgabe der §§ 18 bis 31 der Geschäftsordnung be-
rathen und beschlossen, worüber das Nähere bei dem Rechte der Reichsgesetzgebung
mitgetheilt werden wird. An dieser Stelle ist hervorzuheben, daß für die Be-
arbeitung derjenigen Geschäfte, welche 1) die Geschäftsordnung, 2) die eingehenden
Petitionen, 8) den Handel und die Gewerbe, 4) die Finanzen und Zölle, 5) das
Justizwesen, 6) den Reichshaushalts-Etat betreffen, besondere Kommissionen nach
Maßgabe des sich herausstellenden Bedürfnisses gewählt werden können, und daß der
Reichstag für einzelne Angelegenheiten die Bildung besonderer Kommissionen be-
schließen kann. Die Wahlen für die Kommissionsmitglieder erfolgen von Seiten
der Abtheilungen (§ 2) durch Stimmzettel nach absoluter Mehrheit ihrer an-
wesenden Mitglieder (§ 26). Die Kommissionen wählen aus ihrer Mitte einen
Vorsitzenden und einen Schriftführer; sie find beschlußfähig, wenn mindestens die
Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Nach geschlossener Berathung wählt die Kom-
mission aus ihrer Mitte einen Berichterstatter, der die Anfichten und Anträge der
Kommission in einem Bericht zusammenstellt. Dieser Bericht wird gedruckt und
mindestens zwei Tage vor der Berathung im Hause an sämmtliche Abgeordnete
vertheilt, auch dem Bundesrathe übersandt. Die Kommissionen sind auch befugt,
durch den gewählten Berichterstatter ohne schriftlichen Bericht im Reichstage münd-
lichen Bericht erstatten zu lassen. Der Reichstag kann aber in jedem Falle
— —
1 Die relative Mehrheit kann für Wah-Mehrheit erfolgt, ungültig find, sondern nur,
len durch die Geschäftsordnung gemäß Art. 80, daß den Scheiftfiihrern in solchem Falle ver-
Abs. 1 der Preuß. Verfassung vorgeschrieben fassungsmäßig keine amtliche Autorität und ihren
werden. Eine solche Vorschrift fehlt in der Erklärungen keine allgemeinverbindliche Wirk-
Reichsverfassung. Daraus folgt aber nicht, daß samkeit zukommt. Solche haben sie aber auch
die Schriftführerwahlen, wenn nur mit relativer nicht.