8 22. Der Begriff des Reichsgesetzes. 157
Gegenüber steht die zuerst von Arndt, Das Verordnungsrecht des Deutschen
Reiches u. s. w., Berlin 1884, in seiner Bearbeitung der Preußischen Verfassung,
3. Aufl., S. 120 f., und der Deutschen Reichsverfassung, S. 104 a. a. O. auf-
gestellte Ansicht, der sich v. Stengel, Preuß. Staatsrecht, S. 167, und Bornhak
angeschlossen haben. Diese Ansicht geht dahin: Gesetz im Sprachgebrauche der Ver-
saffungen und des Staatsrechts ist lediglich ein formeller Begriff. Gesetz in Preußen
ist Alls und nur das, was der König nach zuvoriger Zustimmung des Landtages
als Gesetz verkünden läßt, und Gesetz im Reiche ist Alles und nur das, was der
Kaiser auf Grund eines üÜbereinstimmenden Mehrheitsbeschlusses von Bundesrath
und Reichstag nach zuvoriger Sanction von Seiten des Bundesrathes im Reichs-
gesetzblatt als Reichsgesetz verkünden läßt. Da es nun nicht Aufgabe dieser Be-
arbeitung des Staatsrechts sein soll, um Worte zu streiten, so mag und muß
vorweg angegeben werden, um welche Dinge es sich bei der Controverse handelt.
Wer annimmt, daß Reichsgesetz gleichbedeutend mit Aufstellung eines Rechtssatzes
durch das Reich sei, der muß folgerichtig annehmen, daß jede Namens des Deutschen
Reiches aufgestellte Norm, also z. B. jede Vorschrift zur Ausführung eines Reichs-
Joll= oder Finanzgesetzes oder der Reichsgewerbeordnung, daß also die unübersehbare
Menge der reichsrechtlichen Normen nur im Reichsgesetzblatt und in anderer Weise
nur unter gleichzeitiger Aufhebung der Vorschrift in Art. 2 der Reichsverfassung
publicirt werden darf, wie dies allerdings zwar nicht die Praxis, wohl aber die in
der Theorie herrschende Meinung annimmt (vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, 1,
S. 612 f., Hänel, Studien, II, S. 66, 91, G. Meyer, Staatsrecht, S. 495,
Binding, Handbuch des Strafrechts, II, § 288, u. A. — und dagegen Arndt,
Verordnungsrecht, S. 198 f.). Wer annimmt, daß Gesetz im Sinne der Reichs-
derfafssung gleichbedeutend mit einer Rechtsnorm sei, muß bestreiten, daß der
Bundesrath auf Grund des Art. 7, Ziff. 2 der Reichsverfassung zur Ausführung
der Reichs gesetze Rechtsnormen aufstellen darf, da er nur vom Erlasse von „Ver-
waltungsvorschriften“ spricht. Solche Rechtsnormen sind jedoch in überaus
häusigen und nicht unwichtigen Fällen vom Bundesrathe erlassen; vgl. hierüber
Arndt, Verordnungsrecht, S. 35 ff., und dagegen Laband, 1, S. 496 ff. Hier-
nach Wahian ein Eingehen auf die Theorie und die Geschichte des Gesetzesbegriffs
unvermeidlich.
Zunächst besteht kein Zweifel und kein Streit darüber, daß die Bezeichnungen
alo“ und „legge“ in den Verfassungen und im Sprachgebrauche Belgiens, Frank-
reichs und Italiens rein formelle Begriffe sind; vor Allem, daß auch die décrets,
Arretées, reglements, vor Allem das reglement d’administration publique, ebenso wie
die istruzioni, regolamenti Rechtsnormen enthalten können so gut wie die lois und
legg.t; vgl. Block, Dictionnaire de P’administration française s. m. loi, décret,
Kelement, arrsté, ferner Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 81 ff., A. Giron,
le droit administratif de la Belgique, Bruzelles 1881, nr. 77, 80, weitere Literatur
bei Arndt, Verordnungsrecht, S. 81 ff. Diese Verfassungen beruhen auf dem
Grundsatze der Volkssouveränetät. Sowohl die Gesetze wie die Verordnungen leiten
ühre verbindliche Kraft aus der Souveränetät des Volkes her. Der Grund ihrer
derbindlichen Kraft liegt in der Verfassung, welche über die Art bestimmt, wie die
souveräne Gewalt ausgeübt wird. Das Volk (der Souverän) hat der gesetzgebenden
Geyalt indeß weitergehende Ermächtigungen ertheilt als der vollziehenden Gewalt.
die Anordnungen der letzteren dürfen nicht im Widerspruche stehen mit den Ge-
ehen, sie können ihrerseits durch Gesetze ausgehoben werden. Der Gesetzgeber hat
in Kahmen der Verfassung die Ermächtigung, anzuordnen, was er will; er kann auch
Gegenstände regeln, deren Regelung ihm nicht ausdrücklich durch die Verfassung
Wertragen ist. Der Verordnungsberechtigte dagegen darf nur anordnen, wozu
ihn durch die Verfassung oder ein Gesetz Ermächtigung ertheilt ist. „U faut,“
ugt A. Giron 1. c. ur. 76, „dque chaque arrsté prenne sa scurce dans la
(eonstitution on dans une loi et du’il soit nécessaire pour son exécution.“
Rechtsnormen, materielle Rechtsfätze stellen jedoch die „ar-
retes“ und die „déerets“ gerade so gut auf wie die „lois“. Wenn
mit Recht behauptet werden muß, daß der Unterschied zwischen lois einer- und den