Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

158 Biertes Buch. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches. 
arrötés oder décrets andererseits nur ein formaler ist, so muß dagegen zugegeben 
werden, daß die wichtigeren Angelegenheiten und mehr grundsätzlichen Regeln in 
den lois, die minder wichtigen Angelegenheiten und die mehr den Charakter von 
Ausführungsverordnungen tragenden Regeln durch die arrêtés oder décrets vor- 
geschrieben werden. Was nun die deutschen Particularrechte anlangt, so muß auch 
hier unbedingt behauptet werden, daß der Begriff des Gesetzes ebenso wie in Frank- 
reich kein materieller, sondern nur ein formeller war. Rechtsnormen enthielten und 
enthalten nicht bloß die unzählbaren Polizeiverordnungen der Lokal--, Kreis-, Be- 
zirks-, Provinzial= und Centralbehörden, sondern auch die überaus häufigen und 
wichtigen Instructionen, Anweisungen, Regulative der Zoll= und Finanzbehörden, 
die Betriebs-, Verkehrs= und Polizeireglements der Eisenbahnbehörden, die Regulative, 
Normen, Instructionen u. s. w. der Unterrichtsverwaltung. Alle diese griffen und 
greifen tief ein in die individuelle Freiheit, in die Freiheit des Eigenthums, fie 
legen oft sehr große Geldopfer den Betheiligten auf!. Ihre Nichtbeobachtung zog 
straf= und civilrechtliche Folgen nach sich. Und doch hat man sie nie als Gesetze 
bezeichnet und vielmehr stets ausgesprochen, daß sie mit den „Gesetzen“ nicht im 
Widerspruche stehen dürfen. Gesetz war vielmehr in der vorconstitutionellen Zeit 
eine vom Landesherrn ausgehende und in bestimmter Form ver- 
kündete Vorschrift. Der König von Preußen war der alleinige Gesetzgeber 
(Allgemeines Landrecht, Thl. II, Tit. 13, § 6), vgl. auch Heinrich Simon, 
Das Preuß. Staatsrecht, Breslau 1844, IV. Man urnterschied förmliche Gesetze, 
Cabinets= Ordres und Verordnungen der höheren Staatsbehörden. Damit eine 
Cabinets-Ordre als Gesetz gelten sollte, mußte der König seinen Willen, sie als 
solches gelten zu lassen, durch ihre vorschriftsmäßige Bekanntmachung zu erkennen 
geben. Wenn im Allgemeinen Landrechte bestimmt wird, daß allgemeine 
Polizeiverordnungen nur der König erlassen kann, so ist damit der Auffassung nicht 
widersprochen, daß Polizeiverordnungen, welche nur für Theile des Staates gelten, 
von den Polizeibehörden erlassen werden dürfen. In der Verordnung über die 
veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der Preußischen Monarchie 
vom 27. Oktober 1810 (Preuß. Ges.-S. 1810, S. 3) ist gesagt, daß alle Gesetze, 
Verfassungs= und Verwaltungs-Normen, es mag auf neue oder Aufhebung und 
Abänderung der vorhandenen ankommen, an die Zustimmung des Königs gebunden 
sind. In dieser Bestimmung, so behauptet Schwartz, Comm. zur Preuß. Ver- 
fassung, S. 197, liegt die Identificirung von Gesetz und Rechtsnorm klar auf der 
Hand. Jedoch mit Nichten. Unter einer Verfassungsnorm hat man z. B. die 
Errichtung von Provinzialständen oder von einer Nationalrepräsentation, die Bildung 
und Eintheilung von Provinzen und Aehnliches zu verstehen, unter einer Ver- 
waltungsnorm die Organisation, Zuständigkeit und Instruction der Staatsbehörden, 
der Oberpräsidien, Regierungen, Consistorien? u. s. w. Es ist gewiß, daß in 
solchen „Verfassungs= und Verwaltungsnormen“ ebenso gut und ebenso wichtige 
Rechtssätze enthalten sind, wie in den „Gesetzen“. Der König wollte in der Ver- 
ordnung vom 27. Oktober 1810 klarstellen, daß ohne seine Zustimmung so wenig 
das Allgemeine Landrecht wie die Verfassung des preußischen Staates oder die 
Organisation der Regierungen u. s. w. durch die Minister geändert werden dürfen. 
Daß es ihm gerade daran gelegen war, die im Einzelnen oft so gleichgültigen und 
vom Standpunkt des Staates unerheblichen Rechtsnormen allein aufzustellen, ist 
in der Verordnung nicht ausgesprochen. Selbstverständlich ist, daß, was vom 
Könige einmal geregelt war, ohne des Königs Zustimmung nicht von einem 
Minister geändert werden durfte; ebenso wie das, was heute in einem constitutionellen 
Gesetze geregelt ist, nur wieder mit Zustimmung des Landtages geändert werden 
darf. In der Cabinets= Ordre vom 4. Juli 1832, betreffend die Befugniß der 
  
1 Man denke an die finanziellen Wirkungen Ber. Bd. III, S. 1318) als Verwaltungsver- 
der Eisenbahnpolizei= und Betriebsreglements, ordnungen „Pferde-Ausfuhrverbote“ und „Zoll- 
wie der Schulregulative. einrichtungen“, welche ganz gewiß Rechtsnormen 
2 Der Abgeordnete Fischer bezeichnete in sind. 
der Ersten Kammer am 3. November 1849 (Sten. 
  
 
	        
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