8 22. Der Begriff des Reichsgesetzes. 159
Minister zum Erlasse solcher Verfügungen, welche das Gesetz nicht ändern oder
nicht eine gesetzliche Declaration enthalten (G.-S. 1832, S. 181), ist die Befugniß
der Minister, intra leges Rechtsnormen aufzustellen, ausdrücklich anerkannt. That-
sächlich find denn auch zahllose Rechtsnormen von den Ministern erlassen worden.
Die Zoll= und Steuergesetze z. B. haben nur die allerwichtigsten und fundamentalen
Vorschriften gegeben; Alles, was zur Ausführung der Gesetze sonst an Rechtsnormen
übrig war, ordneten die Minister — Dinge, die heute in den Gesetzen selbst normirt
zu werden pflegen. Zugegeben ist, daß sich in diesem Jahrhundert ein Sprach-
gebrauch dahin auszubilden begann, welcher unter „Gesetz“ dasjenige begreifen
wollte, was man heute als das gemeine Civil= und Strafrecht bezeichnet. Proceß--
gesetze J. B. rechnete man im absoluten Staate in Preußen nicht dazu, weshalb
die preußische Staatsregierung die Verordnung über das Verfahren in Ehesachen
vom 28. Juni 1844 (G.-S. 1844, S. 184) nicht gemäß III, Ziff. 2 des Gesetzes
wegen Anordnung der Provinzialstände vom 5. Juni 1823 (G.-S. 1823, S. 129)
den Provinzialständen zur Begutachtung vorlegte. Aber selbst wenn man so weit
gehen könnte, unter Gesetz im Sinne des vorconstitutionellen Staatrechts die
Normen zu begreifen, welche Veränderungen in Personen= und Eigenthumsrechten
und in den Steuern zum Gegenstande haben (III, Ziff. 2 des Ges. v. 5. Juni
1823, G.-S. 1828, S. 129), ferner § 7 der Einleitung zum Allgemeinen Land-
rechte, ferner Zachariä, Deutsches Staats= und Bundesrecht, 3. Aufl., II, S. 159 ff.,
so gelangt man noch immer nicht zu dem Schlusse, daß Gesetz gleichbedeutend mit
Rechtsnorm ist. Im Gegentheile, denn alle die Rechtsnormen, welche nicht das
gemeine Civil- oder Strafrecht betrafen, wurden eben nicht als Gesetze bezeichnet.
Ferner gehörte zum Begriffe des Gesetzes vor Allem ein Formales, nämlich, daß
es der Landesherr erlassen und als Gesetz verkündet hat. Es ist daher durchaus
unzutreffend, daß man im vorconstitutionellen Staat vor oder bei Erlaß der Ver-
fafsungen das Wort „Gesetz“ gleichbedeutend mit Rechtsnorm gebraucht hat.
Wenn man die Verhandlungen z. B. der preußischen Nationalversammlung
oder der preußischen Kammer über Art. 62 (Gesetzgebung) oder Art. 63 (Noth-
derordnung) oder über Art. 45 (Ausführungsverordnung) oder über Art. 106
(Gültigkeit gehörig verkündeter Königlicher Verordnungen) durchliest und die Pro-
gramme der politischen Parteien (vgl. Arndt, Preuß. Verf.-Urk., S. 12) über-
blickt, so kann nicht verkannt werden, daß in den Jahren 1848 und 1849 über
das sog. Veto der Krone, nicht aber darüber gestritten wurde, ob jeder Rechtssatz
nur in einem Gesetze aufgestellt werden sollte. Nur die Rechte in der National-
dersammlung forderte im Jahre 1848, daß zu jedem Gesetze auch die Zustimmung
der Krone nothwendig sei, die Linke und die Centren wollten der Krone höchstens
ein aufschiebendes, suspensives Veto zugestehen. Während der Entwurf der National-
versammlungskommission und die Reichsverfassung vom März 1849 der Krone nur
ein suspensives Veto einräumten, bestimmt nun die Preußische Verfassungsurkunde
in Art. 62, Abs. 1: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den
König und durch zwei Kammern ausgeübt.“ Auch die Krone, nicht bloß die beiden
Kammern sind Factoren der Gesetzgebung. Die in der Nationalversammlung
herrschend gewordene Linke hatte der Nationalversammlung, als der Vertretung
des souveränen Volkes, das alleinige Recht zur Feststellung der Verfassung bei—
zecgt, und als diese z. B. den Adel einseitig für abgeschafft erklärte, solchen als-
bald im amtlichen Sprachgebrauch als unzulässig erachtet?2. Mit dem Absatz 1 in
Art. 62 ist die Auffassung vereinbar, daß es zum Zustandekommen eines Gesetzes
benüge, wenn zwei (die Mehrheit) der drei Factoren übereinstimmen, oder wenn
em drei Mal hinter einander von zwei Factoren angenommener Entwurf ohne
. Oder welche nicht die Freiheit der Person 1850 § 4, Nr. 6, Schwarzburg-Rudolstäbtischer
dier des Eigenthums betreffen; vgl. auch Baye- Landtags-Abschied v. 21. April 1821, Kurhessische
zcee Verf-Urk. Tit. VII § 3, Badische Verf- Verf--#. v. 1852, 8 5, u a. m.
* § 65. Altenburgisches Grundgesetz § 201, So sprach man nicht mehr von einem
ceiningensches Grundgesetz § 85, Weimarisches Grafen Brandenburg, sondern nur noch von einem
wundges. 5 5, Nr. 6, in der Revision v. J. „Ministerium Brandenburg"“.