Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

# B. Inhalt der Reichsgesetze und Zuständigkeit der Reichsgesetzgebnng. 163 
§ 23. Inhalt der Reichsgesetze und Zuständigkeit der 
Reichsgesetzgebung. 
Der Staat ist begriffsgemäß souverän, d. h. ihm steht die höchste Gewalt 
zu, und es giebt keinen Gegenstand, welcher von der Staatsgewalt nicht erreicht 
werden kann. Der Staat kann in jedes, selbst wohlerworbene Recht eingreifen 
und bestehende Rechte mit oder ohne Entschädigung aufheben. Diese Auffassung 
vom Staat ist modern, sie war dem mittelalterlichen Staatsbegriffe fremd, fie ist 
im Wesentlichen von Frankreich nach Deutschland herübergekommen und lag sowohl 
dem Staate Ludwig XIV. von Frankreich und der französischen Revolution wie dem 
Staate Friedrichs des Großen und den Staaten der Rheinbundfürsten zu Grunde. Ihren 
adaquaten Ausdruck hat die Lehre von der Souveränetät der Staatsgewalt gefunden 
in den beiden bekannten Sätzen von Bodinus de republica, I, 1: „Res publica 
est familiarum rerumgque inter ipsas communium summa potestate ac ratione 
multitudo,“ und I, 8: „Majestas est Ssumma in cives legibusque soluta 
potestas.“" Damit deckt sich, was das Allgemeine Landrecht, Theil II, Tit. 13 
von den Rechten des Staatsoberhauptes sagt. Die Lehre von der Unumschränktheit 
gad Ausschließlichkeit der Staatsgewalt ist in der Theorie! wie in der Praxis un- 
estritten. 
Wie weit die Staatsgewalt ihre Befugnifse ausübt, ist eine Zweckmäßigkeits- 
frage. So wird sie nicht ohne Noth wohlerworbene Rechte aufheben. Indessen ist 
Solches nicht selten geschehen; so z. B. find die Rechte der Provinzen und der 
Provinzialstände, die am fremden Grund und Boden haftenden Rechte, wie Jagd, 
Obereigenthum, Frohnden, Zehnten und ähnliche, in Frankreich, Preußen und den 
meisten anderen deutschen Staaten aufsgehoben worden. Wenn es auch billig er- 
scheint, daß wohlerworbene Rechte nur gegen Entschädigung aufzuheben find, so 
besteht eine rechtliche Verpflichtung dazu nicht, und es sind in Frankreich, 
Preußen u. s. w. solche Rechte zuweilen ohne jede Entschädigung beseitigt worden, 
z. B. das Jagdrecht am fremden Boden in Preußen während des Jahres 1848. 
„Es läßt sich,“ wie Lassalle im System der erworbenen Rechte, S. 197, sagt, 
„vom Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst des- 
selben für selbstherrlich und für alle Zeiten und gegen alle künftigen zwingenden 
oder prohibitiven Gesetze erklären.“ Dies Alles gilt von der Gesetzgebung als 
der höchsten Staatsgewalt; sie ist „legibusaue soluta“, sie kann jedes ältere 
Gesetz aufheben, je nach ihrem Ermessen, mit rückwirkender Kraft oder ohne solche, 
gegen Entschädigung und ohne Entschädigung der etwa durch sie beseitigten oder 
veränderten wohlerworbenen Rechte. 
Es ist begreiflich, daß der Individualismus einen gewissen Schutz gegen die 
Omnipotenz des Staates suchte. Den stärksten fand und findet er darin, daß die 
Staatsgewalt in den durch die Verfassung bezeichneten Fällen nur durch ein Gesetz 
oder nur in Gemäßheit des Gesetzes, d. h. auf Grund und innerhalb der vom 
Gesetzgeber ertheilten Ermächtigung, in seine Rechtssphäre eingreifen darf, und daß 
Gesetze nicht vom Staatsoberhaupte allein, sondern nur noch unter Zustimmung 
der Volksvertretung erlassen werden dürfen. Einen ferneren Schutz suchte er darin, 
daß gewisse Rechte unter den Schutz nicht nur eines einfachen Gesetzes, sondern 
unter den der Verfassung gestellt find — daß die Verfassung die Freiheit der 
Glaubensausübung, der Presse, der Vereinigungen und Versammlungen gewähr- 
leistet, daß nach der Vorschrift in der Verfassung Strafgesetze, außer soweit sie 
mildere Strafandrohungen enthalten, nicht rückwirkende Kraft haben, und daß wohl- 
erworbene Rechte nur gegen vorgängige, im Rechtswege zu verfolgende Ent- 
schädigungen aufgehoben werden sollen. Solche Verfassungsvorschriften sind aber 
— — 
1 H. A. Sacharis Deutsches Staats= und Staatslehre, S. 561 ff., Seydel, Bayerisches 
Bundesrecht, +5 12, S. 41, v. Gerber, Grund= Staatsrecht, S. 851, Gierke in des Heitschrift 
Hge eines Systems des deutschen Staatsrechts,für Staatswissenschaft, Bd.XXX, S. 304, u. A.m. 
. Aufl., S. 22, Bluntschli, Allgemeine 
11“
	        
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