#3. Inhalt der Reichsgesetze und Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung. 169
Wenn Ziffer 11) der Reichsgesetzgebung unterstellt die „Bestimmungen über
die wechselseitige Vollstreckung von Erkenntnissen in Civilsachen und Erledigung
von Nequisitionen überhaupt“, so bezieht sich dies nach dem Wortlaute
nicht bloß auf Requisitionen in sog. Justiz-, sondern auch auf Verwaltungssachen.
Im Gebiete der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit kommt jetzt Titel 13 des Gerichts-
verfassungsgesetzes zur Anwendung 1. Für die streitige Gerichtsbarkeit, welche
zur Zuständigkeit besonderer Gerichte gehört, gilt noch das im ganzen Reiche in
Kraft stehende Gesetz, betr. die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869
(B.-G.-Bl. 1869, S. 305) neben landesgesetzlichen Bestimmungen, z. B. dem
preußischen Ausführungsgesetze vom 24. April 1878 (G.-S. 1878, S. 230), § 87,
und Staatsverträgen. In reinen Verwaltungssachen besteht die Pflicht zur Rechts-
hülfe nur auf Grund besonderer Vorschriften, z. B. § 101 des Unfallversicherungs-
gesetzes vom 6. Juli 1884 (R.-G.-Bl. 1884, S. 69), § 141 des Gesetzes, betr. die
Invaliditäts= und Altersversicherung vom 22. Juni 1889 (R.-G.-Bl. 1889, S. 97).
Das Gesetz über den Beistand bei Einziehung von (Reichs= und Landes-) Abgaben
und Vollstreckung von Vermögensstrafen vom 9. Juni 1895 (R.-G.-Bl. 1895, S. 256)
gründete sich nach den Motiven auf die Erwägung, daß, wenn für die gegenseitige
Beistandsleistung eine rechtliche Grundlage geschaffen werden soll, dies weit leichter
und zweckmäßiger im Wege eines Reichsgesetzes geschehe, als wenn zu diesem Zwecke
eine Reihe von Staatsverträgen geschlossen und von den Landtagen aller betheiligten
Staaten genehmigt werde. Darin liegt keineswegs das Anerkenntniß, daß dieser
Zusatz über den Rahmen der Reichszuständigkeit hinausgeht; diese folgt vielmehr aus
Ziff. 11) „Erledigung von Requisitionen überhaupt“ ?.
Es unterliegen 12) der Reichsgesetzgebung Bestimmungen 㟆ber die Be-
glaubigung von öffentlichen Urkunden“ und 13) „die gemeinsame Gesetzgebung
über das gesammte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Ver-
fahren“. Ziff. 13 lautete ursprünglich: „die gemeinsame Gesetzgebung über das
Obligationenrecht, Strafrecht, Handels= und Wechselrecht und das gerichtliche Ver-
sahren.“ Die heutige Fassung beruht auf dem einem Initiativantrage des Reichtages
entstammenden Gesetze, betr. die Abänderung der Nr. 13 des Artikels 4 der Ver-
sassung des Deutschen Reiches vom 20. Dezember 1873 (R.-G.-Bl. 1873, S. 879).
Zweifel bestehen darüber, wie das Wort „gemeinsame“ Gesetzgebung aus-
zulegen ist. Gewiß erscheint, daß die Beaufsichtigungsbefugniß des Reiches sich
nicht auf die bloße Landes-, sondern nur auf die Reichsgesetzgebung erstreckt, also
nicht darauf, wie beispielsweise das preußische Berg= oder das preußische Fischerei-
gesetz ausgeführt werden, während unzweifelhaft die Aufsichtsbefugniß des Reiches
die Ausführung der Reichsjustizgesetze umfaßt 2. Bezüglich des Gesetzgebungsrechts will
Binding" das Wort „gemeinsam“ auf den Beruf, nicht auf die Competenz
des Reiches beziehen. Richtig ist es, das Wort im gewöhnlichen Sprachgebrauch
zu nehmen. Gemeinsame Gesetzgebung ist eine solche, die nicht einem einzelnen
Staate eigenthümlich, sondern dem ganzen Reiche gemeinsam ist. Dies bedeutet
nicht, daß jede Reichsnorm nun auch thatsächlich in jedem Theile jedes Bundes-
staates zur Anwendung kommt, sondern daß sie über das Sonderinteresse eines
Bundesstaates hinausreicht; ebenso wie gemeinsame Eisenbahnen, Wasserstraßen u. s. w.
solche find, welche nicht bloß für den lokalen, sondern auch für den nationälen
Verkehr Bedeutung haben.
Das Wort „Strafrecht“ in Ziff. 13 umfaßt auch das Polizeistrafrechts.
Der Gesetzgeber kann die Ermächtigung zum Erlasse von Strafnormen delegiren“".
1 Arndt, Komm., S. 99, u. weiter unten. 4 Handbuch des Strafrechts, I. S. 277; f.
2 Anderer Ansicht Seydel, Comm., S. 93; auch Seydel, Comm., S. 94.
s. auch Sten. Ber. des Reichstages 1894/95,, 5 Binding. Handdbuch, I, S. 276, Hänel,
S. 2246, 2278 f., 2304. Staatsrecht, S. 467, Seydel, Comm., S. 467,
*s Es wird kaum Anlaß vorliegen, daß diese Heinze, Staatsrechtliche und strafrechtliche Er-
Tufficht praktisch wird; das Recht dazu ist an= brterungen zum Entwurf eines norddeutschen
erkannt auch in dem verfafsungsberathenden Strafg ehouths, beipzip 1870, S. 49; Arndt,
Reichstage, Sten. Ber. S. 315; s. auch Seydel,Verordnungsrecht, S. 157 f.
S. 93. 6 Arndt, Verordnungsrecht, S. 157 f.