Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

8 26. Der Weg der Reichsgesetrgebung. 183 
lange kann der Reichstag eine Gesetzesvorlage des Bundesraths annehmen, nament- 
lich ob noch nach Schluß der Reichstagsseffion. Die in der Theorie herrschende 
Meinung nimmt an, daß der gesammte Gesetzgebungsact von der Einbringung des 
Entwurfs im Reichstage bis zur Verkündigung der ausgefertigten Gesetzesurkunde 
im Reichsgesetzblatte nach einem wirklichen constitutionellen Gewohnheitsrechte und 
gemäß dem Principe der Discontinuität der Reichstagssessionen !, wie mit Rücksicht 
auf die vielleicht veränderte Stimmung im Reichstage beendigt sein müsse, bevor 
der Reichstag zu einer neuen Session zusammentritt?. Dieser Ansicht wird von 
Arndts mit der Begründung widersprochen, daß die Discontinuität ein Princip 
sei, welches der Reichstag in seiner Geschäftsordnung sich selbst gesetzt habe, ein 
solches Princip aber die verfassungsmäßigen Rechte der anderen Gesetzgebungs- 
factoren (namentlich des Bundesraths) nicht berühre. Dieser Ansicht schließt sich 
Seydel" unter Aufgabe seines früheren Standpunktes mit eingehender und zu- 
treffender Begründung an. Das Princip der Discontinuität der Reichstagssessionen 
besage, daß Geschäfte der vorigen Session, die nicht zum Abschlusse gekommen sind, 
in der neuen Session nicht einfach fortgesetzt werden können, sondern neu begonnen 
werden müssen. Wenn nun der Reichstag einen Gesetzentwurf bereits durchberathen 
und angenommen habe, dann sei der Entwurf für den Reichstag erledigt. Wo 
aber Überhaupt nichts mehr fortzusetzen sei, könne auch das „Princip der Discon- 
tinuität“ keine Anwendung finden. Der Umstand, daß der Reichstag dem Gesetze 
vielleicht nicht mehr zustimmen würde, wenn er sich abermals darüber schlüssig zu 
machen hätte, sei für den Rechtsbestand des bereits gefaßten Beschlusses gleichgültig. 
Aehnliches könne dem Gesetzgeber selbst auch begegnen. Ob die verbündeten Re- 
gierungen auf diese Möglichkeit Rücksicht nehmen wollen oder nicht, liege im Gebiete 
der politischen, nicht der staatsrechtlichen Erwägungen. Ich möchte noch hinzu- 
fügen, daß Art. 7 der Reichsverfassung keine Zeitgrenze für den Beschluß des 
Bundesraths setzt, und daher muß ich der Ansicht Seydel's, daß der Bundes- 
tath staatsrechtlich auch noch nach Schluß der Reichstagssession, auch nach Auf- 
lösung des bisherigen und nach Wahl eines neuen Reichstages einer vom Reichs- 
tage beschlossenen Gesetzesvorlage seine Sanction ertheilen darf, nunmehr beitreten 5. 
Aus den Worten in Art. 5: „Die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider 
Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend“, 
ergiebt sich, daß, von den Ausnahmefällen des 2. Absatzes und des Art. 78 
abgesehen, nicht noch die Zustimmung anderer Factoren, etwa des Kaisers oder 
der Einzellandtage, zu einem Reichsgesetze nothwendig ist. Sodann ergiebt, wie 
oben dargethan, der Wortlaut der allerdings in der Norddeutschen Bundesver- 
sasfung fehlenden Ziffer 1 in Art. 7, daß der Bundesrath und nicht der Kaiser 
das Recht der Sanction bei den Reichsgesetzen hat. Noch klarer wird dies 
durch die Vorschrift in Abs. 2 des Art. 5 bewiesen, welche überflüssig wäre, wenn 
der Kaiser allgemein einen vom Bundesrath sanctionirten Gesetzentwurf auch seiner- 
seits noch zu genehmigen hätte. Die Vorschrift überträgt dem Kaiser ein solches 
Recht nur bei den Militär-, den Zoll= und Steuerangelegenheiten. In der Praxis 
kann die hier vorgetragene Ansicht als unbestritten bezeichnet werden . Die 
  
1 S. hierüber oben S. 131f. 
: S. Laband, 1, S. 539, H. Schulte 
Staatsrecht des Deutschen Reichs, II, S. 120, 
d. Nönne, Reichsstaatsrecht, II, S. 51; 
G. r er fordert Sanction und Verkün= 
digung spätestens bis zum Beginne einer neuen 
Wahlperiode. 
* Komm. S. 131. 
Comm. S. 118; -6 dagegen 1. Aufl., S. 120. 
* Widerlegt wird die oben vertretene Ansicht 
dadurch micht, daß den verbündeten Regierungen 
in einem Falle die Verkündigung eines Gesetzes 
enicht angemessen erschien, weil in- 
S. 51). In drei anderen Fällen hat der Bundes- 
rath das Princip der Discontinuität nicht be- 
rücksichtigt; s. diese bei G. Meyer, Staats- 
recht, § 163, Anm. 19, und Seydel, Comm., 
S. 118. Ein neues Beispiel ist die Militär= 
Hitsorun vom 1. Dezember 1898 (R.-G.-Bl. 
in der Theorie: 
898, S. 1189 
Sezpel. 
aband, I. S. 513 f., 
Sie herrscht an 
* t z rn 200IS 
u. Meyer, Zorn nel u. s. w.; theilweise 
anderer . namentlich Frick er, Die Ver- 
Ffl tung des Kaisers zur Terkündigung, der 
Reichsgesetze, 1885, S. 4 ff., 25 a. a. O., Kol- 
B.. 
  
wischen die Einberufung des Reichstages zu 
einer neuen Seffion erfolgt warx (Drucks. Nx. 9 
des Neichstages 1871; s. auch Sten. Ber. 1878, 
bom, im Arch. f. öff. Recht, Bd. V, S. 9 ff., 
Bornhak, ebendort Bd. VIII, S. 461 ff. 
 
	        
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