8 B. Der Wegs der Reichsgesergebnng. 185
daß auch ein übereinstimmender Mehrheitsbeschluß beider Körperschaften über das
ganze Gesetz vorhanden ist. Die Ausfertigung des Gesetzes durch den Kaiser
beurkundet, daß der Kaiser es für verfassungsmäßig zu Stande gekommen erachtet 1.
Was nicht aus der Verfassung folgt, was in das Ermessen einer jeden Körperschaft
gestellt ist, dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung, berührt die staatsrechtliche
Gültigkeit eines Gesetzes nicht, hat der Kaiser nicht zu prüfen und berechtigt ihn
nicht, die Ausfertigung vorzuenthalten. Dagegen wird der Kaiser einem Gesetzes-
entwurfe, bei dem die verfassungsmäßigen Vorschriften nicht beobachtet wurden, die
Ausfertigung versagen und es dem Bundesrathe wie dem Reichstage überlassen
müssen, soweit es geht, das Fehlende nachzuholen, z. B. eine nochmalige Ab-
stimmung bei beschlußfähiger Zahl im Reichstage herbeizuführen. Sehr fraglich
ist, ob die Ausfertigung eines Reichsgesetzes den Einzelstaaten, den Gerichten und
anderen Behörden das Recht entzieht, die Gültigkeit oder Verbindlichkeit eines Ge-
setzes anzuzweifeln. Bezüglich der Einzelstaaten wird die Frage weiter unten (bei
den Sonderrechten) behandelt werden; bezüglich der Gerichte und Verwaltungs-
behörden erscheint die Ansicht, daß den Gerichten und Verwaltungsbehörden das
Prüfungsrecht entzogen ist?, überaus praktisch. Sie würde sich decken mit der
Vorschrift in Art. 106 der Preuß. Verfassung, wonach Gesetze und Verordnungen
derbindlich find, wenn fie in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt ge-
macht worden find, die Behörden also das gehörige Zustandekommen nicht prüfen
dürfen. Es ist auch zuzugeben, daß die Behörden kaum in der Lage sein werden,
zu prüfen, ob alle verfassungsmäßigen Vorschriften über das Zustandekommen eines
Gesetzes “ sind, und daß Satz 2 in Art. 2 der Reichsverfassung für diese
Aunsicht spricht.
ñ Die Form der Ausfertigung kann der Kaiser bestimmen; nur muß die Gegen-
zeichnung des Reichskanzlers oder eines zur Gegenzeichnung ermächtigten Vertreters
ubedingt erfolgt sein". Das Fehlen einer solchen Gegenzeichnung bedeutet den
Mangel einer wesentlichen Vorbedingung für den Gesetzescharakter 5. Das Datum
des Gesetzes ist das der Ausfertigung, nicht das des Zustandekommens (der Sanction),
noch das des Inkrafttretens.
Die Verkündigung hat nach Art. 2 vermittelst des Reichsgesetzblattes zu er-
solgen. Wenn das Reichsgesetz ein Landesgesetz zum Reichsgesetze erklärt, oder in
einem anderen Gebiete des Reiches einführt, begnügt sich die Praxis nicht selten
damit, auf den anderweitig erfolgten Abdruck des Landesgesetzes zu verweisen.
Diese Praxis muß als zulässig gelten, da der vom Reichsgesetzgeber ertheilte
derbindliche Befehl nicht das * als solches, sondern dessen erweiterte
Geltung betrifft, der Befehl aber, daß seine Geltung erweitert ist, im Reichs-
gesetzblatte verkündet wird é.
Dem Kaiser liegt ob nur der Verkündigungsbefehl, die Verkündigung liegt
dem Reichskanzler oder seinem zur Gegenzeichnung befugten Vertreter ob. Der
Kanzler und sein Vertreter find daher auch für den richtigen Abdruck verantwortlich.
Druckfehler dürfen und müssen sie berichtigen. Streitig ist, was zu geschehen
hat, wenn Redactionsfehler vorgekommen find, etwa bei Zusammenstellung
der Beschlüsse in einer der gesetzgebenden Körperschaften, oder daß etwas Anderes
als Beschluß übersandt wird, wie thatsächlich beschlossen worden ist, oder daß in
der Allegirung von Gesetzesvorschriften oder sonst Schreib= oder Druckfehler oder
sonstige Versehen sich eingeschlichen haben. Dies ist nicht selten geschehen, und
man hat dem dadurch in der Praxis abzuhelfen versucht, daß man (anonyme)
Berichtigungen oder Belehrungen in das Reichsgesetzblatt geschickt hat, nämlich der
Reichskanzler bezw. sein Vertreter, und zwar mit und ohne Zustimmung des
— —
1 Arndt, Komm., S. 134, Laband, 1 Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen.“
S. 525 f., Hänel, Studien, I, S. 119, Gierke, Art. 17 und weiter unten.
in Grünhut's Feitschr. Bd. VI, S. 230. 68 Val. Erk. des Reichsger. v. 13. Juni 1882,
1 Diese wird namentlich von Laband, I,Entsch. in Civils., Bd. VIII, S. 3.
S. 532 f., vertreten. * Ebenso Laband, 1, S. 537; anderer An-
„Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche sicht Zorn, I, S. 419, Anm. 89.