192 Viertes Buch. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches.
gegeben und ob nicht 14 Stimmen im Bundesrathe dagegen waren. Die Praxis
hat die Antwort dahin ertheilt, daß nur der Bundesrath (abgesehen von der
Frage, ob der Kaiser dies prüfen darf) und jedenfalls nicht der Reichstag ein
solches Prüfungsrecht hat. Ist der Reichstag der Anfsicht, daß eine Verfassungs-
änderung vorliegt, so muß er die ihm dafür durch seine Geschäftsordnung auf-
erlegten Formen erfüllen. Darüber, ob der Bundesrath seinerseits die diesem für
Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Modalitäten erfüllt hat, kann er nicht ent-
scheiden, da seine Entscheidung darüber, ob eine Verfassungsänderung vorliege, den
Bundesrath nicht bindet. Man muß annehmen, daß der Bundesrath die Vor-
schrift des Art. 78 beachtet und daß, wenn dies nicht geschehen ist, der Kaiser die
Ausfertigung des Gesetzes ablehnt. Ebenso kann angenommen werden, daß die
überstimmten Staaten im Bundesrathe und beim Kaiser eintretenden Falls
geltend machen, ob die Vorschrift in Art. 78 erfüllt oder verletzt sei. Die Gerichte
werden dies nicht prüfen können, weil die Bundesrathsverhandlungen geheim sind.
Man kann aber sogar behaupten, daß sie dies auch nicht prüsen dürfen, da die
Vorschrift in Art. 78 zum Schutze und im Interesse der Einzelstaaten, nicht aber
zum Schutze und im Interesse der Bürger gegeben ist, und letztere somit ihrerseits
kein Recht haben, zu verlangen, daß Gesetze, bei deren Abstimmung dem Art. 78
nicht Genüge geschehen sei, für sie unverbindlich seien, also nicht vom Gerichte an-
gewendet werden dürfen. Für diese Ansicht läßt sich noch auf Satz 2 in Art. 2
der Reichsverfassung hinweisen.
Es ist fraglich, ob eine Verfassungsänderung und Verfassungsverletzung vor-
liegt, wenn der Kaiser Befugnisse, welche ihm die Reichsverfassung überträgt, z. B.
die, den Bundesrath und den Reichstag zu berufen und zu schließen (Art. 12)
oder Beamte anzustellen (Art. 18), reglementarische Anordnungen auf dem Gebiete
des Postwesens zu erlassen (Art. 50), nicht in Person, sondern durch den Reichs-
kanzler oder einen Anderen ausübt, oder wenn ein Gesetz, z. B. Gesetz über das
Postwesen vom 28. Oktober 1871 (R.-G.-Bl. 1871, S. 347), § 50, vorschreibt,
daß Befugnisse, welche dem Kaiser in der Verfassung übertragen find, durch einen
Dritten ausgeübt werden. Was die Berufung, Eröffnung, Vertagung und
Schließung des Bundesrathes und des Reichstages anlangt, so hat der Kaiser seine
Befugniß hierzu niemals in dem Sinne dem Reichskanzler übertragen, daß dieser
über Berufung u. s. w. selbst zu befinden hat, vielmehr ist es der Kaiser, welcher
Berufung, Vertagung vornimmt, wenn auch die Erklärung der Kaiserlichen Ent-
schließung durch den Reichskanzler erfolgt. Es liegt also eine Uebertragung einer
Kaiserlichen Befugniß und eine Verfassungsverletzung in einem solchen Falle über-
haupt nicht vor, wie denn auch nach der Preußischen Verfassung dem Könige das
Recht zusteht, den Landtag zu berufen und zu schließen (Art. 51), die Eröffnung und
Schließung indeß nicht nothwendig durch den König in Person geschieht, sondern auch
durch einen dazu von ihm bevollmächtigten Minister geschehen kann (Art. 77). Eine
Verfassungsänderung würde dagegen vorliegen, wenn der Kaiser den Kanzler bevoll-
mächtigen würde, falls es dem Kanzler richtig erscheine, oder gar, so oft es dem
Kanzler richtig erscheine, den Bundesrath oder den Reichstag nach eigenem Er-
messen zu berufen oder zu schließen. Ebensowenig liegt eine Verletzung der Ver-
fassung darin, daß der Kaiser nicht alle Reichsbeamten selbst ernennt, sondern fie
in sehr häufigen Fällen ernennen läßt, oder anders ausgedrückt, daß sehr viele
Reichsbeamte nicht vom Kaiser, sondern im Namen des Kaisers ernaunt
werden. Denn Sinn und Zweck des Art. 18 der Reichsverfassung gehen dahin,
daß nicht der Bundesrath, noch die Einzelstaaten die Reichsbeamten ernennen; daß
das Recht der Ernennung vielmehr dem Kaiser zusteht, nicht aber dafür, daß
gerade der Kaiser in Person diese Ernennung vornimmt. Die Frage, ob Er-
nennungen vom Kaiser in Person zu erfolgen haben, oder ob der Kaiser sein Er-
nennungsrecht weiter delegiren darf, berührte die Reichsverfassung nicht, deren In-
halt darauf gerichtet ist, die Zuständigkeit zwischen den Organen des Reiches ab-
zugrenzen und die Befugnisse aufzuführen, welche die Einzelstaaten der Gesammtheit
abtreten. Daß die Ernennung eines Reichsbeamten im Namen des Kaisers, anstatt
durch den Kaiser keine Verfassungsverletzung darstellt, ist übrigens in der Praxis