6* 26. Erschwerte Gesetzgebung u. s. w. 195
vertragsmäßig bezeichneten Rechten erleiden kann, daß aber, abgesehen von dem
Falle des zweiten Absatzes in Art. 78, die als vertragsmäßig bezeichneten Rechte
als Hinderung der Reichsgesetzgebung nicht anerkannt werden können. Die Vor-
schrift, daß das Bundesgebiet aus den in Art. 1 bezeichneten Staaten besteht,
stellt zugleich das bestimmte Recht jedes Bundesstaates dar, mit seinem gesammten
Gebiete einen Theil des Bundesgebietes auszumachen. Folglich kann, von Friedens-
schlüssen abgesehen, kein Reichsgesetz ohne Zustimmung eines Bundesstaates ergehen,
daß dieser Staat oder Theile desselben an das Ausland oder an einen anderen Bundes-
staat abgetreten werden. Andererseits bleibt zu jeder Veränderung des Bundes-
gebietes, selbst wenn der betheiligte Bundesstaat zustimmt, immer den Fall eines
Friedensschlusses ausgenommen, ein verfassungsänderndes Gesetz nothwendig. Die
Stimmenzahl jedes Staates im Bundesrathe stellt gleichfalls sein bestimmtes Recht
zur Gesammtheit dar und kann daher nur mit seiner Zustimmung geändert werden 1.
Soweit es sich nicht um solche bestimmten Rechte handelt, kann ein Reichsgesetz
auch in die Organisation der einzelnen Bundesstaaten eingreifen. Die Einzel-
staaten aufheben oder deren Befugnisse auf das Reich übertragen, kann ein Reichs-
gesetz nicht ohne Weiteres; denn dies würde gleichbedeutend und praktisch wie
rechtlich nur möglich sein nach Beseitigung der Mitgliedschaft der Bundesstaaten
im Bundesrathe. Eine solche Beseitigung kann aber nur durch Zustimmung aller
Bundesmitglieder erfolgen. Alle diese Fragen haben übrigens praktisch nur geringe
Bedeutung. Zu beachten bleibt dabei, daß, um die Sonderexistenz der einzelnen
Bundesstaaten aufzuheben, doch vor Allem der Bundesrath solches beschließen muß;: der
Bundesrath, das ist eben die Vertretung der einzelnen Bundesstaaten. Um die Ver-
nichtung der Einzelstaaten abzuwehren, hätte es daher der ausdrücklichen Vorschrift in
Art. 78, Abs. 2 der Reichsverfassung nicht erst bedurft. Zu beachten bleibt ferner, daß,
wenn Preußen Anträge im Bundesrathe oder im Reichstage zum Zwecke der gänz-
lichen Mediatisirung der Bundesstaaten stellen würde, diese Preußen gewissermaßen
moralisch vorhalten könnten, daß sie in diesem Sinne die Bündnißverträge im
Jahre 1866 nicht abgeschlossen haben. Eine juristische Bedeutung läßt sich aber
der Berufung auf diese Verträge nicht beilegen.
Art. 78, Abs. 2 der Reichsverfassung bestimmt:
„Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte
Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit fest-
gestellt find, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates
abgeändert werden.“
Die Reichsverfassung schreibt keine besondere Form vor, in der das Sonder-
recht aufzugeben ist, sondern stellt die Materie unter die Bestimmung, wie im
Bundesrath Beschlüsse bei Verfassungsänderungen vor sich zu gehen haben. Daraus
ist zu folgern, daß jede Willenserklärung genügt, auch die durch die Zustimmung
zu einer das Sonderrecht aufhebenden Norm thatsächlich abgegebene, daß ferner die
Aufgabe des Rechts im Bundesrathe selbst rechtswirksam vor sich geht, daß also
kein neuer Staatsvertrag, noch ein das Sonderrecht aufgebendes Landesgesetz noth-
wendig find. Der Ausdruck „Bundesstaat“ in Abs. 2 Art. 78 steht nicht ent-
gegen, denn der Bundesstaat wird im Organismus des Reiches nach der Reichs-
verfassung nur durch seine Bevollmächtigten im Bundesrath vertreten. Diese
Auffassung wird auch durch die Vorgänge bei Annahme der Reichsverfassung be-
stätigt. Bei der Generaldebatte am 5. December 1870 (Sten. Ber. S. 85,
Bezold, III„, S. 177) bemerkte Lasker: „— Deshalb wünsche ich zunächst
Aufklärung darüber, in welcher Weise die Zustimmung dieser Staaten gedacht
wird. Ich glaube dieselbe so auffassen zu müssen, daß in dem Bundesrathe die
Zustimmung der Stimme desjenigen Staates nothwendig ist, welcher ein Reservat-
recht ausfgeben soll, ein Zurückgehen auf die Landtage der berechtigten Staaten
nicht erforderlich ist. Darauf lege ich Gewicht, daß die gesammte Reformentwickelung
innerhalb des Bundes selbst sich vollziehe und nicht abhängig gemacht werde von
— —
1 Siehe auch weiter unten.
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