Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

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198 Biertes Buch. Die Gesetzsebung des Deutschen Reiches. 
sich vielmehr um ein feststehendes, unzweifelhaftes Rechtsprincip handele, welches 
an und für sich einer formellen Sanction gar nicht bedurft hätte; durch den Abf. 2 
des Art. 78 habe nur, um jede Mißdeutung auszuschließen, ausdrücklich anerkannt 
werden sollen, daß trotz der Fassung des Abs. 1 in Art. 78 die Sonderrechte auch 
dem Abs. 1 gegenüber unentziehbar sein sollen. Deshalb gelte die Unentziehbarkeit 
nicht bloß für die in Abs. 2 des Art. 78 aufgeführten Rechte, sondern auch für 
alle übrigen Sonderrechte, sowohl für die, welche als Ausnahmen von den 
allgemeinen, für alle Staaten geltenden Regeln zu Gunsten einzelner Staaten durch 
Gesetz eingeführt seien, wie für die, welche den Einzelstaaten ohne Rücksicht auf den 
Zweck des Reichsverbandes zustehen, wie endlich für solche, welche dadurch bestimmt 
werden, daß kein Staat wider seinen Willen schlechter gestellt oder mehr belastet 
werden dürfe, als sich aus der gleichmäßigen Anwendung der für alle Staaten 
geltenden Regeln ergebe. Art. 78, Abs. 2 sei also nur eine Anwendung eines 
allgemeinen Grundsatzes. Die andere Ansicht: bezieht die Bestimmung in Abfs. 2 
des Art. 78 lediglich auf diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung selbst, welche 
einzelnen Staaten bestimmte Rechte ausdrücklich vorbehalten oder übertragen. 
Zu den Sonderrechten des Art. 78 werden danach nicht diejenigen Rechte der 
Einzelstaaten gerechnet, welche weder ausdrücklich überwiesen, noch ausdrücklich vor- 
behalten find, sondern die nach der allgemeinen Competenz des Reiches den Staaten 
zu selbstständiger Innehabung und Ausübung überlassen seien. Es sollen dazu 
ferner nicht solche Rechte gehören, welche nicht ausdrücklich in den Vorschriften der 
Reichsverfassung genannt sind, und endlich nicht solche Rechte, welche allen 
einzelnen Bundesstaaten oder jedem einzelnen oder mehreren nach einem gemein- 
gültigen Verfaffungsgrundsatze zukommen. Der Abf. 2 des Art. 78 bezieht sich 
nach dieser Ansicht nur auf solche Rechte, welche einem einzelnen oder 
mehreren einzelnen Bundesstaaten im Unterschiede und in Sonderung von 
den Rechten aller Staaten — auch wenn diese Rechte als bestimmte festgestellt 
find — zustehen. 
Um zu einer richtigen Lösung dieser wichtigen Controverse zu gelangen, muß 
auf die Entstehungsgeschichte zurückgegangen werden. · 
Abs. 2 in Art. 78 ist erst bei Redaction der Reichsverfaffung vom 16. Aprik 
1871 eingefügt. Vorher fand sich die Bestimmung im Schlußprotokolle zum Ver- 
trage zwischen dem Norddeutschen Bunde und Baden und Hessen vom 15. November 
1870 unter Ziff. 8 (B.-G.-Bl. 1870, S. 650), im Vertrage mit Bayern vom 
23. November 1870 unter Ziff. V (B.-G.-Bl. 1871, S. 9), sowie im Vertrage 
mit Württemberg vom 25. November 1870 unter Ziff. 1g (B.-G.-Bl. 1870, 
S. 654). Bei Berathung dieser redactionellen Aenderung stellte der Abgeordnete 
Hänel am 4. April 18712 (Sten. Ber. S. 159, Bezold, III, S. 1263) den 
Antrag, den Abs. 2 so zu fafsen, daß er sich nur auf bestimmte (im Antrage näher 
bezeichnete) Rechte Bayerns, Württembergs und Badens beziehen sollte. Ihm ent- 
gegnete der bayerische Minister v. Lutz (Sten. Ber. S. 161, Bezold, II, 
S. 1267): „— Ich will nur bemerken, daß von allen Seiten, welche beim Ab- 
schluß der Verträge mitgewirkt haben, die hier in Frage stehende Bestimmung als 
eine selbstverständliche betrachtet worden ist, als eine Bestimmung, welche bei 
richtigem Verständniß der Verträge auch auf dem Wege der Interpretation hätte 
hergestellt werden können. Ich glaube auch beifügen zu können, daß allseitiges 
Einverständniß darüber feststeht, daß diese Bestimmung daneben geltendes Recht 
enthält —."“ Darauf bemerkte Lasker (Sten. Ber. S. 161, Bezold, II, 
S. 1268): „— Ich habe den Vertreter des Bundesraths (v. Lutz) richtig ver- 
standen, als er sofort damit begann, der zweite Absatz des Artikels 78 sei der 
selbstverständliche Inhalt der früheren Bundesverfassung. Daraus folgt, daß durch 
die Annahme der jetzigen Vertragsbestimmung keinerlei Veränderung erfolgt, daß 
  
1 HKänel, Deutsch. Staatsr., 1, S. 815 f., nalen 1876, S. 665, v. Rönne, Reichsstaats- 
R. v. Mohl, Staatsr., S. 63, 149, G. Meyer, echt, II, S. 44 ff., E. Loening, in Hirth's 
Staatsrechtliche Erörterungen über die deutsche Annalen 1875, S. 337. 
Reichsverfassung, S. 71 ff., und in Hirth's An- 2 Drucksachen Nr. 22.
	        
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