Vorwort.
Von den beiden Wegen zur Erkenntniß, dem deductiven (der logischen Schluß-
jol gerung aus allgemeinen und abstracten Obersätzen) und dem inductiven (der
Sammlung, Sichtung, Durchdringung und Beleuchtung des thatsächlichen Materials),
ist für die deutsche Staatsrechtswissenschaft der erstere ohne den letzteren nicht ziel-
führend. Denn die Verfassung des Deutschen Reiches beruht nicht auf einem ab-
stracten Obersatze, aus welchem sich jede einzelne Zuständigkeit und Funktion der
Reichsgewalt mit logischer Nothwendigkeit ableiten läßt. Sie sollte und wollte nach
den Worten des Fürsten Bismarck kein theoretisches Ideal einer Bundes-
verfassung darstellen, sie entspricht keinem der hergebrachten Begriffe, weder vom
Einheitsstaate noch vom Bundesstaate, sie kam nicht wie Athene aus dem Haupte
des Zeus auf einmal fertig zur Welt; sie ist vielmehr in ihrer jetzigen Gestalt
langsam und allmählich auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse erwachsen und
kann nur mit diesen und aus diesen begriffen werden.
Dies gilt mehr oder minder überhaupt von jeder anderen Staatsverfassung.
Die Begriffe Staat und Gesellschaft, Herrschaft und Volk, Regierung und Unter-
thanen find überall dieselben, und doch haben sich die Verfassungen, d. i. die Ab-
grenzung der Machtgebiete zwischen den Staatsgewalten, in den verschiedenen
Staaten verschieden gestaltet. Das Königthum in England hat historisch, politisch
und rechtlich eine ganz andere Stellung wie in Preußen; die jährliche Bewilligung
der Staatseinnahmen und Staatsausgaben z. B. hat in England eine andere Bedeutung
wie in Frankreich und Belgien, in diesen Staaten wiederum eine andere wie in
Preußen, und auch in diesem führenden Bundesstaate erfolgt fie nicht vollständig
nach den gleichen Grundsätzen wie im Deutschen Reiche.
Es giebt eben kein für alle Staaten, Völker und Zeiten gleiches Staatsrecht;
dieses ist ein überall auf historischem Boden gewachsenes, ein gewordenes, daher
überall ein verschiedenes und in fortwährendem Anderswerden begriffenes.
In noch höherem Maaße gilt dies von dem Verwaltungsrecht. Wie
weit der Staat in die individuelle Freiheit und in das wirthschaftliche Leben ein-
greist, ob und in welcher Weise er dem Gewerbebetriebe Freiheit gewährt oder
Schranken auferlegt, ob und bis zu welchem Maaße er den Arbeiterschutz und die
Arbeiterfürsorge durch Zwangsnormen regelt, ob er Münz= und Bankwesen, Eisen-
bahn= und Postwesen der freien Thätigkeit seiner Bürger überläßt oder durch
Normativvorschriften in diese Gegenstände eingreift, oder ob er gar selbst sie mono-
volistisch in die eigene Verwaltung nimmt, stand von je und steht im Flusse der
Entwickelung. Bei den Einzelgebieten kommen nicht blos allgemeine und grund-
sätzliche, sondern praktische und concrete Gesichtspunkte zur Geltung. Trotzdem ist
und bleibt es nicht minder nothwendig, die leitenden Gedanken aufzusuchen; man
darf nur nicht verkennen, daß der Gesetzgeber mit Vorbedacht sich nicht überall
durch diese bestimmen ließ, sondern häufig den wechselnden Bedürfnissen und Wünschen
des Tages Zugeständnisse machte.
Das vorliegende Werk sucht die Theorie und Praxis des Reichs-Staats= und
Verwaltungsrechts nach Möglichkeit mit einander zu vereinen, indem es beiden eine
gleichmäßige Berücksichtigung und Würdigung zu Theil werden läßt. Der Ver-
faffer ist für seine Person von der höchsten Verehrung, Werthschätzung und Dankbarkeit
gegen alle seine Vorgänger auf diesem Gebiete erfüllt, glaubt jedoch, daß es ihnen
nicht in allen Fällen gelungen ist, das thatsächlich geltende Recht zur Darstellung zu
bringen. Die Theorie, von zu allgemeinen Obersätzen ausgehend, hat nicht selten