308 Sechstes Buch. Verkehrswesen.
Diese Verfassungsvorschriften sprechen von Pflichten der Bundesglieder, nicht
von einem Rechte des Reiches. Sie besagen nicht, daß das Reich ein Reglement
oder für ganz Deutschland das gleiche Reglement, für die verschiedenen Gegen-
stände also gleiche Reglements erlassen soll oder darf, sondern, ihrem Wort-
laute nach, daß Reglements — übereinstimmende allerdings — von den Bundes-
gliedern eingeführt werden sollen. Gleichwohl hat auf Grund dieser Ver-
fassungsvorschriften das Deutsche Reich durch den Bundesrath für die verschiedenen
Gegenstände das gleiche Reglement mit dem Anspruche und der thatsächlichen
Wirkung unmittelbar, d. h. nicht erst durch die einzelnen Bundesregierungen
vermittelter Gültigkeit erlassen u. A.:
das Bahnpolizei-Reglement für die (Voll-) Eisenbahnen Deutschlands
vom 30. November 1885 (R.-G.-Bl. 1885, S. 289). Dieses Reglement ist
aufgehoben. Heute gelten folgende auf Grund der Art. 42 und 43 der
Reichsverfassung erlassene Vorschriften:
1) die Bahnordnung für die Nebeneisenbahnen Deutschlands vom 5. Juli
1892 (R.-G.-Bl. 1892, S. 764),
2) die Normen für den Bau und die Ausrüstung der (Haupt-)Eisenbahnen
vom 5. Juli 1892 (R.-G.-Bl. 1892, S. 747),
3) Betriebsordnung für die Haupteisenbahnen Deutschlands vom 5. Juli
1892 (R.-G.-Bl. 1892, S. 791),
4) Signalordnung für die Eisenbahnen Deutschlands vom 5. Juli 1892
(R.-G.-Bl. 1892, S. 733),
5) Bestimmungen über die Befähigung der Eisenbahnbetriebsbeamten vom
5. Juli 1892 (R.-G.-Bl. 1892. S. 728),
6) die Verkehrs-Ordnung für die Eisenbahnen Deutschlands vom 15. Nov.
1892 (R.-G.-Bl. 1892, S. 923),
An Stelle der Bezeichnung „Reglement“ ist die Bezeichnung „Ordnung"
getreten.
Alle diese Vorschriften find Verordnungen, da fie ohne Zustimmung des
Reichstages, nicht im Wege des Gesetzes, ergangen find. Sie sind nicht durch die
einzelnen Bundesregierungen, sondern vom Reiche veröffentlicht worden. Sie sind
sämmtlich Rechts= (gesetzvertretende) Verordnungen; sie stellen Rechtsnormen auf, und
zwar überall den Eisenbahnunternehmern, zum großen Theil auch dem Publicum,
Jedermann gegenüber. Sie befehlen u. A., welche Beschaffenheit eine Voll= oder
Nebenbahn haben muß, um betriebssicher zu sein. Die Befolgung dieser Vorschriften
ist mit großen Kosten verbunden, sie kann erzwungen werden, und zwar den Staats-
bahnen gegenüber äußersten Falls durch Bundesexecution gegen den Staat (Art. 19
der Reichsverfassung), den Privatbahnen gegenüber durch Concesfionsentziehung
Seitens der Landesregierung. Z
Die Befolgung der Vorschriften der Verkehrsordnung wird, soweit sie die
Haftung für den Transport betrifft, gegenüber den Eisenbahnunternehmern dadurch
bewirkt, daß von ihr zum Nachtheil des Publicums abweichende Abreden als
nichtig gelten; die der übrigen Vorschriften erfolgt ebenso, wie bei den über polizei-
liche Beschaffenheit, Construction u. dergl. Die das Publicum betreffenden polizei-
lichen Vorschriften des Eisenbahnpolizeireglements und der Verkehrsordnung: nicht
den Bahnkörper zu betreten, nicht in fahrende Wagen einzusteigen, nicht feuergefährliche
oder Explofivstoffe mit sich zu führen, haben die Natur von Strafgesetzen, ihre
Uebertretung ist mit gerichtlicher Strafe bedroht.
Aber wenn so erwiesener Maßen alle vom Bundesrath auf Grund der Art. 42 ff.
erlassenen Verordnungen, Reglements, Normen, Ordnungen, oder wie sfie sich sonst
nennen mögen, thatsächlich gesetzvertretende Verordnungen find, und zwar solche,
die vom Reiche unmittelbar erlassen und verkündet find, wie läßt sich deren Rechts-
beständigkeit? begründen?
1 Dies erkennt u. A. Hänel, Staatsrecht, satorische Entwickelung, S. 81 ff., Hänel,
S. 656 f. Staatsrecht, S. 644 ff., Laband, Reichsstaats-
: Diese ist allerdings mehr oder weniger recht, 1. Aufl., Bd. II, S. 89, 90, 363 ff. 372 ff.,
in der Theorie bestritten: Hänel, Organi= minder bestimmt allerdings in den neueren Auf-