§ 36. Das Reichshaushalts-Etatsgesetz. 333
Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Graf Posadowsky-Wehner, in der
Reichstagssitzung am 20. März 1896 1: „Ich habe zunächst Namens der verbündeten
Regierungen zu erklären, daß sie eine Aenderung bestehender Gesetze in Verbindung
mit dem Etatsentwurfe nicht acceptiren können. Nach den Ueberweisungsgesetzen
sowohl wie nach den Zolltarifgesetzen des Jahres 18797 haben die verbündeten
Regierungen Anspruch auf den vollen Betrag der Ueberweisungssteuern, bezw. auf
den vollen Betrag der Zölle, soweit sie die Summe von 130 Millionen über-
steigen. Die verbündeten Regierungen glauben es als staatsrechtlich nicht zulässig
betrachten zu müssen, daß ein bestehendes Gesetz in Verbindung mit dem Etats-
gesetze abgeändert wird, und würden eine solche Form des Etatsgesetzes nicht
acreptiren können.“
Was bedeutet nach alledem das Staatshaushalts-Etatsgesetz im Reiche und in
Preußen? Gesetz ist die von der obersten Gewalt im Staate getroffene Anordnung,
ein Reichsgesetz ein vom Kaiser publicirter übereinstimmender Mehrheitsbeschluß
von Bundesrath und Reichstag. Der Gesetzgeber ist souverän, er kann mit ver-
bindlicher Kraft anordnen, was er anordnen will. Das Etatsgesetz ordnet nun
nicht an und will nicht anordnen, daß nur die in ihm veranschlagten Einnahmen
erhoben werden dürfen, vielmehr will es solche nur „veranschlagen“ und „fest-
stellen“. Es ordnet auch nicht an, daß die in ihm festgesetzten Ausgaben unbedingt
geleistet werden müssen. Wenn z. B. eine Ausgabe zu hoch veranschlagt ist oder
eine veranschlagte Ausgabe entsteht nicht oder noch nicht in dem Etatsjahre, so
soll keineswegs die Ausgabe in ihrer veranschlagten Höhe geleistet werden. Da-
gegen bedeutet das Etatsgesetz, nach Sinn und Wortlaut, ordnet es an und will es
anordnen, daß die Regierung die Bewilligung hat, die festgesetzten Ausgaben, soweit
sie an sich gesetzlich oder sonst gerechtfertigt sind, zu leisten. Das Etatsgesetz spricht
somit einmal die Veranschlagung der Einnahmen und Ausgaben und sodann die
Bewilligung zur Leistung der im Etat festgesetzten Ausgaben aus.
In England, Frankreich und Belgien dagegen bedeutet das Etatsgesetz
nicht bloß die Veranschlagung und Festsetzung der Einnahmen und Ausgaben,
sondern zugleich die der Executive ertheilte und ihr nothwendige Ermächtigung,
die veranschlagten Einnahmen zu erheben und die veranschlagten Ausgaben zu leisten.
Das Etatsgesetz auch im Reiche und in Preußen ist keine bloße In-
struction an die Behörden, es ist keine Ausführungsverordnung zu den
Gesetzen, es ist kein die gesammte Organisation des Staates regelndes
allgemeines Gesetz; es ist ein Gesetz, das, wie jedes andere Gesetz, das ist, was es
sein will, was es in seinem Wortlaute vorschreibt: die Veranlagung und Fest-
stellung der Einnahmen und Ausgaben, zugleich die Ermächtigung, die festgestellten
Ausgaben — vorausgesetzt, daß sie gesetzlich oder sonst gerechtfertigt find —
zu leisten.
Nichtzustandekommen des Staatshaushalts-Etatsgesetzes.
In parlamentarisch regierten Ländern, wie in England, Frankreich und
Belgien, kann der Fall kaum noch vorkommen, daß Regierung und Parlament sich
nicht über das Etatsgesetz einigen. Sollte dieser Fall eintreten, so würden die
Minister nicht befugt sein, die Staatseinnahmen zu erheben und die Staats-
ausgaben zu leisten. Sie können höchstens, wie Pitt im Jahre 1784, das
Parlament auflösen. Auf die Dauer können fie in solchen Staaten nicht ohne
Etatsgesetz regieren. Sie find dort vermögensrechtlich, meist sogar strafrechtlich für
die Führung der Staatsgeschäfte haftbar s.
Anders stellt sich der Fall in Preußen und im Deutschen Reiche. Bereits
kurze Zeit nuch Gültigkeit der revidirten Verfassung, schon am 16. Dezember 1850,
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1 Sten. Ber. S. 1611. à Siehe Block, Dictionnaire de l'admini-
Meines Erachtens vor Allem nach der stration française s. m. „budget“.
Vorschrift in Art. 70 der Reichsverfassung.