Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

36 Erstes Buch. Entstehung des heutigen Deutschen Reiches. 
Der Bundesrath hatte die Verträge mit einer dem Art. 78 der Bundesverfassung 
entsprechenden (zwei Drittel-)Mehrheit gebilligt (Sten. Ber. des nordd. Reichst. 
1870, auß. Sess., Anl. Nr. 6, S. 3 ff.). Hierauf beantragte der Bundesrath des 
Norddeutschen Bundes im Einvernehmen mit den Regierungen von Bayern, 
Württemberg, Baden und Hessen durch Schreiben des Bundeskanzlers vom 9. De- 
cember 1870 (Drucksachen des Reichstages, Actenstück Nr. 31, S. 114) beim 
Reichstag, zu genehmigen, daß der zum 1. Januar 1871 geschlossene Deutsche Bund 
den Namen „Deutsches Reich“ führen sollte, und daß die Ausübung der Präfßddial- 
rechte des Bundes durch den König von Preußen mit der Führung des Titels eines 
Deutschen Kaisers verbunden würde. Dieser Antrag wurde in zwei, am 10. December 
abgehaltenen Sitzungen in dreimaliger Berathung angenommen (Sten. Ber. S. 167 ff., 
S. 181 ff.). Die Proclamirung der Herstellung der Kaiserwürde erfolgte durch 
König Wilhelm im Spiegelsaale des Schlosses zur Versailles (Proclamation im 
preuß. Staatsanzeiger Nr. 19 von 1871). 
Die Zerstreuung der Grundlagen der Verfassung des Deutschen Reiches in einem 
Bundesgesetze und in den Novemberverträgen, sowie die Absicht, die Terminologie 
der Ausdrücke „Deutsches Reich" und „Deutscher Kaiser“ durchzuführen, veranlaßten 
am 11. März 1871 die Einbringung des Entwurfs, betreffend die Verfassung des 
Deutschen Reiches, welchem als Anlage die „Verfafungsurkunde für das Deutsche 
Reich“ beigegeben war (Sten. Ber. des Reichst. 1871, I. Session, Bd. III, Acten- 
stück Nr. 4, S. 1 ff.). Die Motive zu diesem Entwurf, der als Gesetz, betreffend 
die Verfaffung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (R.-G.-Bl. S. 63) zur 
Verabschiedung gelangte, äußern darüber: 
„Diese) Zerstreuung der Grundlagen, auf welchen der politische Zu- 
stand Deutschlands beruht, ist ein Uebelstand, welcher dadurch noch fühl- 
barer wird, daß der Vertrag vom 23. November v. J. (mit Bayern) 
mehrere Bestimmungen der am 15. desselben Monats vereinbarten Verfassung 
nur ungenau wiedergeben konnte, und daß die dadurch herbeigeführte In- 
congruenz wichtiger Vorschriften, ungeachtet der vorsorglichen Verabredung 
unter Nr. XV des Schlußprotocolls vom 23. November v. J., zu Miß- 
verständnissen führen kann. Die Zusammenfassung der in diesen vier Ur- 
kunden enthaltenen Verfassungsbestimmungen in einem einzigen Document 
ist daher ein nicht zu verkennendes Bedürfniß.“ 
Der Abgeordnete Lasker bemerkte bei der Berathung (Sten. Ber. S. 95): 
„Selbst wenn ein Irrthum in dieser Redaction sich mitunter einschleichen sollte, 
selbst wenn irgend ein Satz vielleicht durch diese Redaction nicht die passende Stelle 
bekommt, so wird man doch in Zukunft bei jedem durch die Worte nicht aus- 
getragenen Zweifel das Recht haben, zurückzugehen auf die Verträge, die wir ge- 
nehmigt haben, als auf ein gewisses Aufklärungsmaterial, während aus dem Um- 
stande, daß wir die Redaction so oder anders heute gefaßt haben, nicht ohne 
Weiteres hervorgehen wird, daß wir das bestehende Recht haben ändern wollen.“ 
Nach diesen und anderen Erklärungen war durch die Verfassungsurkunde vom 16. April 
1871, abgesehen von zwei unwesentlichen Ausnahmen bei Art. 8 und Art. 52, 
eine sachliche Aenderung des bestehenden Rechts nicht beabsichtigt und nicht herbei- 
geführt 1. Das Publicationsgesetz vom 16. April 1871 schreibt vor, daß an die 
Stelle der zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Großherzogthümern Baden 
und Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes, sowie der mit den 
Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zu dieser Verfassung ge- 
schlossenen Verträge mit dem 4. Mai 1871 die neu formulirte „Verfassungs- 
urkunde“ für das Deutsche Reich tritt. Dieselbe soll also in ihrem materiellen 
Inhalt keine neue Verfassung, sondern nur eine berichtigte Beurkundung sein ?. 
Aber wenn auch die Verfassung vom 16. April 1871 in materieller Hinsicht nur 
eine berichtigte Beurkundung des damals gültigen Rechtszustandes gewesen ist, und wenn 
man in Zweifels= und Streitfällen auf ihre Quellen, insbesondere die November= 
  
  
  
. Sen Seydel, Comm., S. 13, Laba nd, 2 O. Mejer, Einleitung, S. 334.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.