Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

§ 9. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches. 39 
Gegen diese Theorie ist von Seydel (Tübinger Zeitschrift für die gesammte 
Staatswissenschaft, 1872, S. 185—256, Staatsrechtliche und politische Abhand- 
lungen, Freiburg und Leipzig 1893, S. 1 ff.) eingewendet worden, daß die 
Souveränetät begriffsgemäß untheilbar, unbeschränkt und ausschließlich sei. Hier- 
gegen verstoße der Bundesstaatsbegriff. Er sei ein wissenschaftlich unmöglicher, 
weil er mit dem Wesen des Staates in Widerspruch stehe. Alle jene politischen 
Gebilde, die man bisher als Bundesstaaten zu bezeichnen pflegte (die Vereinigten 
Staaten, die Schweiz, der Norddeutsche Bund, das Deutsche Reich) müssen danach 
entweder einfache Staaten oder Staatenbünde sein; die Souveränetät und die 
Eigenschaft als Staat könne nur entweder dem Einzelstaate oder dem Gesammt- 
staate zustehen. Diese Kritik hatte insoweit Erfolg, als die Theorie nunmehr die 
Souveränetät nur dem Gesammtstaate beilegte und den Einzelstaaten absprach 
(Laband, Staatsrecht des Deutschen Reichs, 3. Aufl., §§ 8, 9, Hänel, Deutsches 
Staatsrecht, I. S. 200 ff., Studien, 1. S. 239 ff., Zorn, I, § 4, Hirth, Annalen 
1884. S. 474 ff., G. Meyer, 2. Aufl., S. 32, 170, O. Mejer, Einleitung, 
S. 25, 294, von Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. XXXX, 
S. 527, Jellinek, Lehre von Staatenverbindungen, S. 291, Rosin in Hirth's 
Annalen 1883, S. 265 u. A.). Ein Theil dieser Staatsrechtslehrer geht sogar so 
weit, den Einzelstaaten im Deutschen Reiche die Eigenschaft als Staat abzusprechen 
und legt ihnen nur noch die Eigenschaft von Selbstverwaltungskörpern bei 
(Jellinek, S. 281 ff., Zorn, 1, S. 84 u. A.). Auch in seinem neuesten Werke 
(Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl., 1897) ver- 
tritt Seydel nach wie vor die Ansicht, daß das Deutsche Reich kein Staat, son- 
dern nur ein auf die Dauer geschlossener Staatenbund, daß seine Staatsgewalt 
keine andere als die gemeinsame aller Einzelstaaten, seine Gesetze und seine Ver- 
fassung nur gemeinsame Landesgesetze, sein Vermögen nur Societäts= (gemeinsames) 
Vermögen seien. 
Wir gehen zu einer Kritik dieser Ansichten über. 
Die Einzelstaaten find deshalb nicht Selbstverwaltungskörper, sondern Staaten, 
weil fie erstens nicht bloß communale, sondern auch nationale Zwecke verfolgen, 
weil fie zweitens aus eigenem Rechte Herrschaftsrechte haben, und weil sie drittens 
im Bundesrath über das gesammte Deutsche Reich verfügen. Wenn auch die 
preußische Rheinprovinz weit mehr Einwohner und viel mehr wirthschaftliche Be- 
deutung hat als Reuß ä. L., so hat doch die Rheinprovinz als communaler Ver- 
band keinen Antheil an der Reichs= oder Landesgesetzgebung, während Reuß durch 
seine Stimme im Bundesrath an der Gesetzgebung im Deutschen Reiche, an Kriegs- 
erklärungen, dem Abschluß von Zoll= und Handelsverträgen u. s. w. theilnimmt. 
Wenn ferner im mittelalterlichen Staate die Gemeinden aus eigenem Rechte 
Anordnungen treffen durften, so ist ihre Herrschergewalt im modernen Staate nur 
eine von diesem übertragene. Vor allem aber ist Folgendes entscheidend: Ueber 
Sein, Anderssein und Nichtsein der communalen Selbstverwaltungskörper haben 
nicht diese selbst, auch nicht ihre Gesammtheit unmittelbar oder auch nur mittelbar 
zu befinden, dergestalt also, daß der Staat über die Gemeinde, nicht aber die Ge- 
meinden über den Staat zu verfügen haben, oder, noch anders ausgedrückt, daß 
der Staat die Souveränetät über die Gemeinden hat. Die Gliedstaaten des 
Deutschen Reiches haben selbst über ihr Sein, Anderssein oder Nichtsein zu be- 
stimmen, und zwar jeder für sich allein oder — soweit die Reichszuständigkeit be- 
gründet ist — alle gemeinschaftlich. Die Gesammtheit aller Gemeinden ist nicht 
Souverän des Staates, wohl aber ist die Gesammtheit aller deutschen Staaten 
Souverän des Deutschen Reiches. 
Laband, I, §§ 8, 9, Zorn, Reichsstaatsrecht, 1, § 4, Hänel, Vertrags- 
mäßige Elemente, S. 239, G. Meyer, Lehrbuch, 2. Aufl., S. 170, v. Treitschke 
in den Preußischen Jahrbüchern u. A. stützen die Behauptung, daß die Einzel- 
staaten die Souveränetät verloren haben, aus den Umstand, daß das Reich sich in 
der Lage befinde, seine Zuständigkeit auf Kosten derjenigen der Einzelstaaten durch 
eigene Acte zu erweitern, daß es die sogenannte Competenz-Competenz besitze. Dieser 
Umstand trifft zunächst für Preußen keineswegs zu. Denn Zuständigkeits-
	        
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