Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

478 Achtes Buch. Reichskriegswesen. 
Artikel der Verfassungs-Urkunde, muß den Kammern sofort, beziehungsweise bei 
ihrem nächsten Zusammentreten, Rechenschaft gegeben werden.“ Rechenschaft geben 
bedeutet lediglich die Pflicht des Ministeriums, den Kammern gegenüber sein Ver- 
halten zu rechtfertigen, d. h. zu rechtfertigen, daß es die königliche Erklärung des 
Belagerungszustandes gegengezeichnet oder die provisorische Erklärung des Be- 
lagerungszustandes durch einen Militärbefehlshaber seinerseits gutgeheißen hat. 
An das Mißlingen der Rechtfertigung bezw. an die abweichende Ansicht eines oder 
beider Häuser des Landtages knüpfen sich rechtliche Folgen nicht. Die Ansicht, 
welche einst der Abgeordnete Camphausen aussprach, daß, wie eine auf Grund 
des Art. 63 der preußischen Verfassungsurkunde vorgenommene Octroyirung nur 
bis zur verweigerten Zustimmung einer Kammer gültig bleibe, dies noch vielmehr 
von dem Falle gelten müsse, wo die Regierung sogar einen Theil der Verfassung 
suspendire, blieb in der Minderheit und findet weder im Gesetze vom 4. Juni 1851 
noch in Art. 111 der Preußischen Verfassung eine Stütze?2. Würde das Gesetz 
oder die Verfassung haben sagen wollen, daß jede Erklärung des Belagerungs- 
zustandes oder jede Suspension einzelner Verfassungsartikel der nachträglichen Ge- 
nehmigung des Landtages bedürfe und aufhören müsse, wenn diese Genehmigung 
versagt wird, so hätte dies (wie im Falle des Art. 63 der Preußischen Verfassung) 
ausdrücklich erklärt sein müssen 8. 
Hieraus ergiebt sich, daß, wenn ein preußischer Militärbefehlshaber einen 
Theil des preußischen Staatsgebiets in Kriegszustand versetzt und dies vom Könige 
oder vom Staatsministerium gebilligt wird, oder wenn das Ministerium von der 
Vorschrift in § 16 des Gesetzes vom 4. Juni 1851 Gebrauch gemacht hat“, das 
preußische Ministerium den preußischen Kammern Rechenschaft zu geben hat, daß 
aber nicht die Zustimmung der Kammer, weder die vorherige noch die nachfolgende, 
für die Gültigkeit oder Wirksamkeit der Maßregel nöthig ist. 
Der Reichskanzler seinerseits ist nur verantwortlich für Regierungshandlungen 
des Kaisers, also nicht für Acte des preußischen Staatsministeriums, noch an sich 
für Erklärungen und Handlungen, welche ein commandirender General oder ein 
Festungscommandant vornimmt. Allerdings kann im Reichstage zur Sprache ge- 
bracht werden, wenn Theile des Bundesgebiets in Kriegszustand versetzt find, da 
am letzten Ende ohne den Willen des Kaisers der Kriegszustand nicht bestehen 
kann. Für Unterlassungen des Kaisers ist der Kanzler nicht verantwortlich, sondern 
nur für dessen „Anordnungen und Verfügungen“. Folglich kann der Kanzler nicht 
dafür verantwortlich gemacht werden, daß „für den Fall eines Krieges“, also auch 
bei einem drohenden Kriege, etwa ein General eine Provinz in Belagerungszustand 
erklärt oder die Kriegsreserven eingezogen hat, ohne daß dies der Kaiser hinterher 
rückgängig gemacht hat. Ist für den Fall eines Aufruhrs der Belagerungszustand 
erklärt worden, was provisorisch vom Militärbefehlshaber, definitiv außerhalb 
Preußens nur vom Kaiser geschehen kann, so ist allerdings hierfür, d. h. für Hand- 
lungen des Kaisers, der Reichskanzler dem Reichstage verantwortlich. Der Be- 
lagerungszustand braucht indeß nicht aufgehoben zu werden, wenn dies der Reichstag 
verlangt. Ueber Verhängung und Fortdauer dieses Zustandes entscheidet allein und 
endgültig der Kaiser. 
Für Elsaß-Lothringen ist ein besonderes Gesetz über die Vorberei- 
tungen des Kriegszustandes vom 30. Mai 1892 (R.-G.-Bl. 1892, S. 667) 
ergangen. Dieses geht weiter als das preußische Gesetz vom 4. Juni 1851, inso- 
weit es einmal nicht „auf die Fälle des Krieges“ beschränkt ist, und sodann, 
  
  
1 Sten. Ber. der I. Kammer 1850/1851, I, 4 § 16 lautet: „Auch wenn der Belagerungs- 
S. 217. zustand nicht erklärt ist, können im Falle dez 
2 Ebenso Schwar 7 Comm. zu Art. 111/Krieges oder Aufruhrs, bei dringender Gefahr 
der Preußischen Verfassung; anderer Ansicht für die öffentliche Sicherheit die Artikel 5, 6, 
v. Rönne, Preußisches Staatsrecht, § 146, II,27, 28, 29, 30 und 36 der Verfassungs-Urkunde 
S. 211. 1 oder einzelne derselben vom Staatsministerium 
* Val. auch die Erklärungen des Ministers zeit= oder distriktweise außer Kraft geseßt 
v. Westfalen, in den Sten. Ber. der I. Kammer werden.“ 
1850/51, S. 217. 
 
	        
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