§ 10. Verhältniß der Einzel-(Bundes.) Staaten zum Deutschen Reiche. 43
„Es hat nicht unsere Aufgabe sein können, ein theoretisches Ideal einer
Grundverfassung herzustellen, in welcher die Einheit Deutschlands einerseits
auf ewig verbürgt werde, auf der anderen Seite jeder particularistischen
Regung die freie Bewegung gesichert bleibe. Einen solchen Stein der Weisen,
wenn er zu finden ist, zu entdecken, müssen wir der Zukunft überlassen,
einer solchen Quadratur des Cirkels um einige Stellen näher zu rücken, ist
nicht die Aufgabe der Gegenwart. Wir haben uns zur Aufgabe gestellt,
in Erinnerung und in richtiger Schätzung, glaube ich, diejenigen Wider-
standskräfte, an welchen die früheren Versuche in Frankfurt und Erfurt ge-
scheitert find, diese Widerstandskräfte so wenig, als es irgend mit dem
Zwecke verträglich war, herauszufordern. Wir haben es für unsere
Aufgabe gehalten, ein Minimum derjenigen Concessionen
zu finden, welche die Sonderexistenzen auf deutschem Ge-
biete der Allgemeinheit machen müssen, wenn diese Allgemeinheit
lebensfähig werden soll; wir mögen das Elaborat, was dadurch zu Stande
gekommen ist, mit dem Namen einer Verfassung belegen oder nicht, das
thut zur Sache nichts. Wir glauben aber, daß, wenn es hier angenommen
wird, für das Deutsche Reich die Bahn frei gemacht worden ist, und daß
wir das Vertrauen zum Genius unseres eigenen Volkes haben können, daß
7 dieser Bahn den Weg zu finden wissen wird, der zu seinem Ziele
führt.“
#§ 10. Verhältniß der Einzel--(Bundes-) Staaten zum Deutschen Reiche.
Die deutschen Fürsten und die Senate der freien Städte haben nicht für ihre
Person, sondern als die völker= und staatsrechtlichen Vertreter ihrer Staaten die
Bündnißverträge vom August 1866 und vom November 1870 abgeschlossen; nicht
für ihre Person, sondern für die durch sie vertretenen Staaten haben sie die
Gesetze, auf denen die Bundes= und die Reichsverfassung beruhen, vollzogen.
Daraus folgt, daß auch der Regent eines Bundesstaates im Namen des Monarchen
an der Gewalt im Deutschen Reiche mitbetheiligt, also insbesondere den Vertreter
dieses Staates im Bundesrathe zu bestellen und zu instruiren berechtigt ist. Da
sonach die Mitgliedschaft an der Reichsgewalt dem Monarchen nur in seiner Eigen-
schaft als Staatsoberhaupt zusteht, so find die Handlungen, welche der Monarch
und welche die Senate der freien Städte in Bezug auf das Deutsche Reich aus-
üben, als staatliche Acte, d. h. als Acte des durch sie vertretenen Staates an-
zusehen. Die Gültigkeit eines solchen Actes richtet sich nach dem Landesrecht.
Weil zur Gültigkeit eines Regierungsactes nach Landesrecht die Gegenzeichnung
nur eines verantwortlichen Ministers erforderlich ist (z. B. preußische Verfassungs-
urkunde Art. 44), so bedarf auch die Bestellung eines Bundesrathsbevollmächtigten
nach außen hin, den übrigen Bundesrathsmitgliedern und dem Deutschen Reiche
gegenüber, zu ihrer Gültigkeit der ministeriellen Gegenzeichnung (ebenso Laband,
Reichsstaatsrecht, I, S. 90, Zorn, Reichsstaatsrecht, 1. S. 133, G. Meyer,
Staatsrecht, S. 378, v. Seydel, Bayr. Staatsrecht, I, S. 512, v. Sarwey,
Württembergisches Staatsrecht, I, S. 79).
Ist der Bundesrathsbevollmächtigte in dieser Weise bestellt, so ist es für das
Deutsche Reich gleichgültig, ob er im Sinne oder entgegen der ihm ertheilten In-
struction im Bundesrath seine Stimme abgiebt. Denn Artikel 5 der Reichs-
verfassung verlangt nur einen Mehrheitsbeschluß des Bundesraths. Dieser soll er-
sorderlich und ausreichend sein, abgesehen von dem gleichfalls erforderlichen
Mehrheitsbeschlusse des Reichstages. Artikel 5 verlangt sonach nicht, daß der
Mehrheitsbeschluß in Gemäßheit der ertheilten Instructionen gefaßt ist. Ob Letzteres
der Fall ist, bildet ein Internum der Einzelstaaten. Eine Beschränkung der Ver-
tretungsbefugniß des Bundesrathsbevollmächtigten ist dem Deutschen Reiche gegen-
über somit unerheblich. Dies kann als unstreitig gelten (s. auch v. Seydel,
Commentar zur Reichsverfassung, S. 132, und Laband, Reichsstaatsrecht, I, S. 217,