Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

508 Achtes Buch. Reichskriegswesen. 
zurückgelegten 39. Lebensjahre) die Reserve. Diese reichte nach dem Gesetze vom 
3. September 1814 vom vollendeten 23. bis zum vollendeten 25. Lebensjahre (§ 6) 
und umfaßte nach der Reorganisation die Jahrgänge vom vollendeten 23. bis zum 
vollendeten 27. Lebensjahre. 
Eine Genehmigung zur Reorganisation wurde von der Staatsregierung beim 
Landtage nicht nachgesucht, sondern nur die Bewilligung der dadurch entstehenden 
Kosten. Diese Bewilligung erfolgte auch für die ersten Jahre, aber stets nur als 
„Extraordinarium“. Im Jahre 1862 wurden die Mittel gestrichen. Gleichwohl 
blieb die Reorganisation in Wirksamkeit. Die 1860 neugebildeten Regimenter und 
Bataillone wurden nicht aufgelöst, ihre Officiere und Mannschaften nicht entlassen. 
Es warfen sich hierbei zwei Fragen auf: 1) War die Reorganisation an sich statt- 
haft? 2) War die Verausgabung der Mittel für diese seit 1863 statthaft? Die erste 
Frage wurde von der Staatsregierung stets bejaht und wenigstens zunächst nicht 
von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses verneint. Die damals maßgebende Fort- 
schrittspartei, namentlich Dr. Waldeck, faßte die Frage lediglich als eine Frage 
des Budgetrechts auf und leitete das Recht, die Kosten der Reorganisation zu 
verweigern, lediglich aus der Befugniß der Volksvertretung ab, alle Einnahmen 
und Ausgaben zu bewilligen (Art. 99 der Preuß. Verfassung) 1. Erst später trat 
ein anderer Gesichtspunkt auf, der hauptsächlich von Rudolf Gneist betont 
wurde, der des „Gesetzes“. Man behauptete, die Reorganisation ändere den bis- 
herigen Gesetzeszustand ab, namentlich das Gesetz vom 8. September 1814, die 
Landwehr-Ordnung vom 21. November 1815 (G.-S. 1816, S. 77) und die Aller- 
höchste Kabinets-Order vom 22. Dezember 1819, die anderweite Eintheilung der 
Landwehr betreffend (G.-S. 1820, S. 5), und könne daher nur durch förmliches 
Gesetz, also nur unter Zustimmung des Landtages, ergehen. Diese Behauptung 
war unrichtig. Denn eine Vorschrift, daß in der Gesetzsammlung veröffentlichte 
Königliche Anordnungen (Gesetze des absoluten Staates) nach Erlaß der Verfassung 
nur unter Zustimmung des Landtages abgeändert werden können, besteht im 
preußischen Staatsrecht de jure et de facto nicht. Es sind auch zahlreiche „Ge- 
setze“ des absoluten Staates Preußen nach Erlaß der Verfassung im Verordnungs- 
wege geändert worden ?. Auch die Ministerverfassung beruhte in Preußen auf 
einem Gesetze des absoluten Staates, das in der Gesetzsammlung vom 27. Oktober 
1810 veröffentlicht war (G.-S. 1810, S. 3), und doch hat gerade Gneist in 
mehreren Werken und Reden die Ansicht vertreten, daß sie ohne Zustimmung des 
Landtages durch Königliche Verordnung abgeändert werden könne. Selbst der 
Abgeordnete Waldeck war bei den Kommissionsberathungen 1864 insoweit auf 
die Seite der Staateregierung getreten und hatte bestritten, daß die hauptsächlich 
in Betracht kommende Kabinets-Order vom 22. Dezember 1819 in dem angegebenen 
Sinne Gesetzeskraft habes und also nur unter Zustimmung des Landtages, durch 
constitutionelles Gesetz, abgeändert werden könnte. Der Einwand der rechtlichen 
Unzulässigkeit der Reorganisation, wegen nicht erfüllter Form des constitutionellen 
Gesetzes, war im Herbst 1864, nachdem die Reorganisation schon mehrere Jahre 
bestand, offenbar verspätet. Der Landtag hätte ihn sofort erheben müssen. Der 
Einwand war auch rein formell juristisch, nicht materiell gemeint; denn es drehte 
sich der sachliche Streit um die Frage der drei= oder zwei jährigen Dienstzeit; 
nur die dreijährige, nicht die zweijährige Dienstzeit, welche letztere nur zeitweise 
thatsächlich nachgelassen war, entsprach aber dem bestehenden Rechtszustande, dem 
Gesetze vom 3. September 1814. Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses glaubte 
durch die Geltendmachung des Budgetrechts die zweijährige Dienstzeit erzwingen zu 
können. 
Nach alledem war die Frage, worin Staatsregierung und Mehrheit des Ab- 
geordnetenhauses durchaus übereinstimmten, eine reine Budgetfrage. Nach 
Art. 109 der Preußischen Verfassung verfügte die Staatsregierung, trotzdem seit 
  
1 Vgl. auch Gesetz und Budget von N. Gneist, 2 Arndt, Verordnungsrecht, S. 218 f. 
; 
Berlin 1879, S. 227. 3* Gneist, l. c. S. 228.
	        
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