514 Achtes Buch. Reichskriegswesen.
erlösche, falls ein neues Gesetz über die Präsenzstärke nicht zu Stande komme.
Hierüber bestehe in der Literatur keine Meinungsverschiedenheit. In einem solchen
Falle fehle es an einer gesetzlichen Rechtsnorm über die Friedenspräsenzstärke.
Dessenungeachtet seien aber noch gewisse verfassungsmäßige Grundlagen des Heeres
vorhanden, nämlich: a) die reichsgesetzlich festgestellte Zahl der Cadres und deren
Formationen, b) der Grundsatz, daß der Kaiser den Präsenzstand der Contingente
des Reichsheeres bestimmt, c) die allgemeine Wehrpflicht, d) der Satz des Art. 62,
Abs. 2, nicht dagegen e) der letzte Absatz des Art. 62. Hiernach läßt, so scheint
es, Laband die Frage offen, ob, wenn ein Gesetz über die Friedenspräsenzstärke
nicht zu Stande kommt, die bei Ablauf der Gesetzeskraft des früheren Gesetzes
geltende Präsenzstärke fortbesteht. Gewiß ist, daß in solchem Falle von einem fort-
geltenden Gesetze über die Friedenspräsenzstärke nicht gesprochen werden kann. Es
ist aber die Frage offen, ob alsdann nicht die bis dahin bestandene Friedens-
präsenzstärke fortgelten muß bis zur anderweiten gesetzlichen Aenderung, d. h. bis
dahin, wo sich der Kaiser, die Mehrheit des Bundesraths und die Mehrheit dez
Reichstages über eine andere Friedenspräsenzstärke verständigt haben. Diese Frage
ist nach dem Wortlaute des zweiten Absatzes in Art. 5 der Verfassung nicht zu
bejahen. Denn das Heer in seiner Stärke ist zwar eine stehende Einrichtung,
also giebt Preußens Stimme den Ausschlag, wenn sie sich bei Gesetzesvor-
schlägen im Bundesrath für die Aufrechterhaltung ausspricht; es ist aber nicht
zum Ausdrucke gebracht worden, daß Preußens Stimme auch dann den Ausschlag
giebt, wenn es sich um keinen Gesetzesvorschlag handelt. Gemeint war in Abfs. 2
des Art. 5 von dessen Antragsteller Twesten aber mehr. Man wollte aus-
gesprochenermaßen ? das Recht der Krone Preußen, daß ohne ihre Zustimmung
nicht bloß der gesetzliche, sondern auch der thatsächliche status quo im Heerwesen nicht
verändert werden kann, aufrechterhalten. Anscheinend ist dies die Ansicht des Fürsten
Bismarck gewesen, der am 11. Januar 1887 im Reichstage (Sten. Ber. S. 342)
sagte: „Die bestehende Einrichtung ist doch immer die Präsenzziffer des vorigen
Jahres und würde in Folge des ausschlaggebenden Votums des Kaisers immer in
Geltung bleiben, selbst wenn, was nicht denkbar ist, die Majorität des Bundesraths
dagegen stimmte.“ Auch Seydel (Comm., S. 322) möchte im gleichen Sinne
aufzufassen sein, indem er sagt: „Kommt aber das neue Gesetz vorher nicht zu
Stande, dann dauert doch jedenfalls die Einrichtung fort, nämlich das Heer in
der bisherigen Friedensstärke. Denn es ist klar, daß man nicht das Heer auflö#sen
kann, bis eine Einigung zwischen Bundesrath und Reichstag erzielt ist; ja, man
darf es sogar nicht, weil das Heer, ganz abgesehen von der Friedenspräsenzstärke,
eine gesetzlich nothwendige Einrichtung ist.“ Andererseits kann nicht verkannt
werden, daß die Reichsverfassung in ihren Vorschriften über das Reichskriegswesen
von einer anderen Ansicht ausging, nämlich von der, daß die Friedenspräsenzstärke
nicht ohne Weiteres, namentlich nicht schon deswegen, weil Preußen fie will, fort-
besteht. Es ist bereits oben erwähnt, daß nach dem Entwurfe der Norddeutschen
Bundesverfassung der jetzige Art. 60 die Friedenspräsenzstärke dauernd, ewig auf
1 Procent der Bevölkerung normiren wollte. Der verfassungsberathende Reichstatz
nahm den Antrag v. Forckenbeck auf Einschaltung der Worte „bis zum
381. Dezember 1871“ und damit den Art. 60 in seiner heutigen Form an 7. Der Antrag
des Grafen Moltke, hinzuzufügen : „Bis zum Erlasse eines abändernden Bundes-
gLesetzes find die bestehenden Beiträge unverändert sortzuerheben. Ebenso bewendet es bis
dahin bei dem durch Art. 56 (jetzt 60) festgestellten Procentsatz der Bevölkerung
der Bundesstaaten“, wurde abgelehnt; ebenso der Antrag v. BVincke-Bennigsen:
„Für die Zeit nach dem 31. Dezember 1871 wird die auf Grundlage dieser
Verfassung gesetzlich bestehende Organisation des Bundesheeres der weiteren
Vereinbarung des Militärbudgets .. zum Grunde gelegt““, und ebenso endlich der
Antrag Falk: „Bis zum Erlasse eines abändernden Bundesgesetzes bewendet es bei
1 Siehe oben S. 181. 2 Drucksachen Nr. 85, Bezold, II, S. 397.
. Sten. Ber. des verfassungsberathenden Drucksachen Nr. 84 und 86. Bezold, U,
Reichstages 1867, S. 610, Bezold, II, S. 454.| S. 8397.