682 Neuntes Buch. Die Reichsbeamten und die Reichsbehörden.
zustandes die Verantwortlichkeit trägt. Da ein Reichskanzlerverantwortlichkeitsgesetz
nicht besteht, so ist Art. 17 in Ansehung dieser Verantwortlichkeit ebenso lex
imperfecta wie Art. 44 der preußischen Verfassung. Dagegen find beide Vorschriften
allerdings leges perfectissimae 1, insoweit der Kaiser und der König von Preußen
stets des Reichskanzlers oder eines Ministers bedürfen, um zu regieren. Der
Kanzler oder der Minister können die Gegenzeichnung verweigern, wenn fie die Ver-
antwortlichkeit nicht glauben übernehmen zu können. Wessen Person der Kaiser
und König sich als Kanzlers oder Ministers bedienen, liegt allerdings in ihrem
freien Ermessen. An Wünsche der deutschen Monarchen, des Bundesraths und des
Reichstages bezw. des Landtages ist der Kaiser nicht gebunden. Da Art. 15 der
Reichsverfassung das Recht der Ernennung des Reichskanzlers dem Kaiser un-
eingeschränkt verleiht und nach den §§ 25 und 35 des Reichsbeamtengesetzes der
Reichskanzler jeder Zeit und ohne Angabe von Gründen entlassen werden kann, so
ist die Schlußfolgerung unabweisbar, daß der Kaiser den Reichskanzler ohne dessen
Gegenzeichnung entlassen kann, daß er zu seiner Entlassung überhaupt keine Gegen-
zeichnung nöthig hat, daß diese Gegenzeichnung indeß auch von einem zur Gegen-
zeichnung ermächtigten Stellvertreter? des Reichskanzlers geleistet werden kann.
Der Reichskanzler ist nach Art. 17 der Reichsverfassung aber nur für Anord-
nungen und Verfügungen des Kaisers, nicht für andere Dinge, z. B. Bundesraths-
verordnungen, verantwortlich. Danach trifft Art. 17 nicht die Frage, ob und wie
Bundesrathsbeschlüsse lauten, ob eine vom Bundesrathe erlassene Verwaltungs-
vorschrift? zu Recht ergangen ist, ob und wie der Bundesrath einen Streit über
Auslegung der Reichsverfassng, Reichsgesetze und Reichsverordnungen entschieden, ob
und wie der Bundesrath eine Verfassungsstreitigkeit oder einen Streit zwischen
verschiedenen Bundesstaaten im Sinne des Art. 76 erledigt hat. Aber noch weiter:
der Art. 17 bezieht sich auch nicht auf Dasjenige, was z. B. der Kriegsminister in
Ausführung der Reichsmilitärgesetze vornimmt, und es ist ein Irrthum, zu meinen,
daß der Reichskanzler der Vorgesetzte aller Reichsbehörden“ und für alle Reichs-
behörden verantwortlich ist. Zu den Reichsbehörden gehören z. B. die Regiments-
und Bataillonscommandeure, die Festungscommandanten, die Gouverneure von
Berlin und Mainz, die commandirenden Generale, vor Allem die Kriegsminister 5.
Keineswegs aber ist der Reichskanzler deren Chef, er hat ihnen keine Befehle zu ertheilen,
er ist auch nicht für ihre Handlungen und Unterlassungen verantwortlich. Die
Kriegsminister sind vielmehr oberste Reichsbehörden ebenso wie der Reichskanzler.
Wenn die Kriegsminister zu obersten Reichsbehörden nur „vorbehaltlich der ver-
fassungsmäßigen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers“ erklärt find, so bezieht sich
diese verfassungsmäßige Verantwortlichkeit nur auf kaiserliche Anordnungen und
Verfügungen, nicht etwa auf Lieferungsverträge, die der preußische Kriegsminister
Namens des Reiches für die Heeresverwaltung abschließt, nicht auf die „Leitung“,
sondern nur auf die „Beaufsichtigung“ der Geschäfte des Kriegsministers, welche
Namens des Reiches erfolgen. Selbst budgetrechtlich besteht eine Verantwortlichkeit
des Reichskanzlers für Lieferungsverträge nicht, welche ein Kriegsminister Namens
des Reiches abschließt; vielmehr hat der Reichskanzler nach Art. 72 der Reichs-
verfassung dem Bundesrath und dem Reichstage über die Verwendung aller Ein-
nahmen des Reiches, also auch über die Verwendung zu militärischen Zwecken, „zur
Entlastung Rechnung zu legen“; aber er hat dafür nicht die Verantwortlich-
keit zu tragen 6. Allerdings hat der Kaiser die Ausführung der Reichsgesetze zu
überwachen (Art. 17 der Reichsverfassung) und ist der Kanzler sein Organ; der
Kanzler hat daher ein Ueberwachungs= und Beaufsichtigungsrecht z. B. auch über
1 v. Seydel, Comm., S. 178. anderen Reichsbeamten übergeordnet und Chef
2 S. weiter unten. aller Reichsbehörden ist.“
: S. oben S. 200. 5 Verordnung, betreffend die Zuständigkeit
4 Dies behauptet u. A. Georg Meyer, der Reichsbehörden zur Ausführung des Gesetzes
Staatsrecht, § 135, S. 416. „Er (der Reichs= vom 31. März 1873, vom 27. Dezember 1899
kanzler) steht endlich an der Spitze der ganzen (R.-G-Bl. 1899, S. 730), unten § 61.
Reichsverwaltung in dem Sinne, daß er allen 68 Oben S. 426 und 484.