750 Elftes Buch. Besitzungen des Deutschen Reiches.
franzöfischen Rechte, gleichwohl übten der Oberbefehlshaber der deutschen Heere und
sein Delegatar in Elsaß-Lothringen nicht die franzöfische, sondern die deutsche Staats-
gewalt aus 1, nämlich die Gewalt der zum Kriege verbündeten Staaten. Dieser Zustand
lieb unverändert, auch nachdem durch Art. 1 des Friedensvertrages vom 10. Mai 1871
Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich, d. h. die im Kriege verbündet gewesenen
deutschen Staaten, abgetreten wurde. Das Gesetz, betreffend die Vereinigung von
Elsaß und Lothringen mit dem Deutschen Reiche, dom 9. Juni 1871 (R.-G.-Bl. 1871,
S. 212) zahm einige Modificationen dieses Zustandes vor. Zwar seine Bestimmung
in § 3, Abs. 1: „Die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus“,
stellt eine solche nicht vor, da diese Gewalt schon vorher vom Kaiser, wenn auch
nicht Ramens des Reichs, so doch sachlich damit übereinstimmend, Ramens der im
Kriege verbündeten Staaten und Heere ausgeübt wurde. Dagegen beschränkt der
zweite Absatz die Befugnisse des Kaisers: „Bis zum Eintritt der Wirksamkeit der
Reichsverfassung ist der Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung an die Zustimmung
des Bundesrathes und bei der Aufnahme von Anleihen oder Uebernahme von
Garantien für Elsaß und Lothringen, durch welche irgend eine Belastung des
Reichs herbeigeführt wird, auch an die Zustimmung des Reichstages gebunden.“
In Berülcksichtigung der vor dem Vereinigungsgesetze vorhandenen Rechtslage stellt
8 8, Abs. 1 somit ein Anerkenntniß, § 3, Abs. 2 dagegen eine Verminderung der
kaiserlichen Befugnisse dar. Nach der letzteren Richtung bewegt sich auch die Vor-
schrift in § 3, Abs. 3, daß dem Reichstage über die vom Kaiser und Bundesrath
erlassenen Gesetze wie die vom Kaiser erlassenen allgemeinen Anordnungen, wie
endlich über den Fortgang der Verwaltung jährlich Mittheilung zu machen ist.
EGesetzgeber in Elsaß-Lothringen war und blieb daher auch nach dem Vereinigungs-
gese e das Reich, die verbündeten Staaten, deren Delegatar der Kaiser war. Der
Priser übte sowohl die Legislative wie die Executive aus, mit einer doppelten Ein-
schränkung, nämlich mit der, daß er nur Dasjenige als Gesetz für Elsaß-Lothringen
erklären durfte, wozu er die Zustimmung des Bundesraths erhalten hatte, und der,
daß er bei Aufnahme von Anleihen und Uebernahme von Garantien, welche eine
Belastung der übrigen, nicht elsaß -lothringischen (bezw. aller) Angehdrigen des
Deutschen Reiches herbeiführen, an die Zustimmung des Reichstages gebunden war.
Da der Kaiser die Legislative in Elsaß-Lothringen ausübte, so konnte ohne seinen
Willen kein Gesetz in Elsaß-Lothringen zu Stande kommen; der Kaiser konnte im
Bundesrath daher bei Ausübung dieser Gewalt nicht majorifirt werden .
Dieser Rechtszustand trat am 28. Juni 1871 in Geltung, weil an diesem
Tage das Vereinigungsgesetz im Deutschen Reiche in Kraft trat und es sich dabei
um Einschränkungen handelte, welche die Reichsgesetzgebung dem Kaiser auferlegte.
Nicht entscheidend konnte aus diesem Grunde der Umstand sein, ob und wann das
Vereinigungsgesetz in Elsaß-Lothringen publicirt wurdes.
Da das Vereinigungsgesetz über die Publication der Gesetze für Elsaß-Lothringen
nichts bestimmte, so blieb es dem Ausküber der elsaß-lothringischen Staatsgewalt
unbenommen, hierüber nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Ein Gesetz für Elsaß-
Lothringen vom 3. Juli 1871 führte das „Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen“ ein,
das vom Reichskanzleramt herausgegeben wurde.
In Ansehung aller Gegenstände, welche nicht in den Bereich der Legislative
fielen, blieb der Kaiser zum Erlasse aller An= und Verordnungen zuständig, un-
beschadet der Vorschrift in § 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871, daß solche An-
ordnungen und Verfügungen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichs-
kanzlers bedürfen. Darüber, wo ein Gesetz nothwendig oder eine Verordnung aus-
reichend ist, entscheidet nicht der Umstand, ob es sich dabei um einen Rechtssatz
handelt“", sondern ob nach dem in Elsaß-Lothringen der Gegenstand zur Legislative
1 Ebenso Leoni, S. 2, Zorn, I, S. 518; Reichstages 1871, S. 924.
anderer Ansicht Laband, I, S. 717. Daß der * Im Ergebnisse übereinstimmend, jedoch mit
Deutsche Bund erst am 1. Januar 1871 entstand, anderer Begründung Laband, I, S. 719 f.
ist hierfür unerheblich. « «Ansichtvon8abanb,l,S.728.
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